Politischer Zoff-Thread oder so

  • Gestern nochmal Bilder von (rechten) Demonstrationen in Chemnitz gesehen. Es macht traurig und wütend, wenn man das sieht. Und die Leute scheinen wirklich für absolut keinerlei Argumente mehr offen zu sein. Offensichtlichste Dinge werden geleugnet oder mit "Lügenpresse" abgetan. Ich bin vollkommen ratlos, wie man der Entwicklung noch Herr werden kann.

  • Und gleichzeitig habe ich in den letzten Tagen beim Pendeln eine Stunde Podcast Interview mit Justin Sonder, einem Auschwitz Überlebenden gehört. Ebenfalls aus Chemnitz. Macht schon sehr betroffen.

  • Ich wollte was zum Brexit schreiben. Aber andremd hat eigentlich schon alles geschrieben. Nicht nur BJ hat nen Knall, auch das Parlament. Hat jetzt wieder gegen einen unregelten Brexit gestimmt. GEGEN. Wie die ganze Zeit. Nicht ein einziges Mal haben die für etwas gestimmt. Und die Frist soll wieder verlängert werden. Mal abgesehen davon, dass es einen Vertragspartner gibt, mit dem Endefristen (aus sehr vernünftigen Gründen) vereinbart worden sind, die schon mehrfach verlängert wurden, wissen die doch gar nicht, was sie wollen. "Einen faireren Deal". Heißt konkret: Die Rosinenpickerei der Mitgliedschaft soll im Zuge des Austritt noch - ins völlig Absurde - steigen.


    Ich kündige meine Mietwohnung per 30. Juni 2019. Möchte am liebsten aber weiter in der Wohnung wohnen bleiben, bloß keine Miete mehr zahlen. Stimme mich intern mit meinen Mitbewohnern ab, dass der Vermieter mich keinesfalls rausschmeißen darf. Und überhaupt gelten die Pflichten wie Treppe putzen und die Hausordnung mit nächtlichen Ruhezeiten nicht mehr für mich.


    Bitte, bitte, bitte keine Fristverlängerung. Lässt sie gehen bzw. schmeißt sie raus (no deal brexit am 31.10.). Muttis - mal wieder von Kapitalinteressen-Lobbyisten eingeflösste - Politik die Briten irgendwie drin zu halten ist unsäglich und wäre das Ende der EU. Der wirtschaftliche Schaden in der Rest-EU ist (entgegen der an Lächerlichkeit kaum zu überbietenden einzigen "wissenschaftlichen" Studie zu dem Thema, Bertelsmann) gering. Der politische Schaden wäre gewaltig. Bei einem Verbleib, wie auch immer (am besten noch durch eine Neuwahl), wird es immer so etwas wie eine Dolchstoßlegende der Unzufriedenen geben. Und das ist in Großbritannien kein kleiner Anteil. Insofern war das Referendum auch kein totaler Ausrutscher. Man wird dort immer wieder mal Mehrheiten für europafeindliche bzw. isolationistische Positionen finden. Das Einzige was vermutlich mehrheitsfähig ist: Die Ruhezeiten werden für die Briten ausgesetzt, sie müssen die Treppe nicht mehr putzen und zahlen künftig nur die halbe Miete. Eben ein Ausbau der Rosinenpickerei.


    Für mich eine existenzielle Frage der EU.

  • Nein, sehe ich ganz anders. Bei einem zweiten Referendum mit einem remain-Votum gibt es keinen Grund für Zugeständnisse von EU-Seite, denke ich.

    Würde man das machen, wäre es ein falsches Signal an andere Wackelkandidaten, nur lange genug zu nerven, um eigene Zugeständnisse zu erreichen.

  • Die ganze Sache relativiert sich meiner Meinung nach, wenn man mal über seinen deutschen Tellerrand hinaus blickt und in Irland fragt, einschließlich Nordirland. Aber es geht ja nicht nur für die um existenzielle Fragen bis hin zum Friedensprozess.


    Die EU besteht eben nicht nur aus Deutschland und aus "Mutti" (was für ein entsetzlicher Spitzname, der nach meiner Erinnerung übrigens durch ein bestimmtes politisches Spektrum popularisiert wurde -- aber das nur so nebenbei).

  • Die EU kann GB nicht rauskicken. Dann würde man sich ja auf das Niveau der Brexiteers begeben und am Ende womöglich verantwortlich zeichnen für weiteres jahrzehntelanges Blutvergießen in Nordirland sowie vieles andere. Ich denke, das wäre langfristig ein deutlich größerer Schaden für die EU. Sie kann das, was sie tatsächlich geschaffen oder wozu sie beigetragen hat, nicht als Druckmittel einsetzen, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren.

    Anders ausgedrückt, verbietet es sich für die EU, die Briten vom Hausdauch zu schubsen, nur weil die sich an den Rand gestellt haben und damit drohen, zu springen.

  • Ich weiß nicht, ob die Alternative eines rücksichtsvollen Vorgehens angesichts vergleichbarer Bestrebungen in Lega-Italien, Pis-Polen oder AfD-Deutschland wirklich erstrebenswert ist.

  • Die EU kann GB nicht rauskicken. Dann würde man sich ja auf das Niveau der Brexiteers begeben und am Ende womöglich verantwortlich zeichnen für weiteres jahrzehntelanges Blutvergießen in Nordirland sowie vieles andere. Ich denke, das wäre langfristig ein deutlich größerer Schaden für die EU.


    So sehe ich das auch. Ich bin froh, dass mit dem Thema Bakcstop so sensibel umgegangen wird und bin dabei sogar der Meinung, dass wirtschaftliche Interessen deutlich aufgeweicht werden könnten, solange GB sich beim Backstop bewegen würde. Eine für alle Seiten sinnvolle Entscheidung wäre zu begrüßen, eine (endlose) Fristverlängerung ist aber immer noch besser als ein No Deal-Brexit aus Prinzip.

  • Ich weiß nicht, ob die Alternative eines rücksichtsvollen Vorgehens angesichts vergleichbarer Bestrebungen in Lega-Italien, Pis-Polen oder AfD-Deutschland wirklich erstrebenswert ist.


    Im Grunde war das Schäubles Kalkül, als er (lt. wiederholter Beschreibung Varoufakis) tatsächlich auf einmal voll dabei war, Griechenland gehen zu lassen, nämlich, ein abschreckendes Beispiel zu produzieren.


    Aber: Ich habe meine Zweifel, ob das Bevölkerungen in Referenden oder Wahlen davon abhalten würde, für Exit-Optionen zu stimmen. Der Adressat der EU-Politik muss vielmehr die nationale Politik sein: Man muss demonstrieren, dass es sich für Politiker lohnt, Exit-Bestrebungen nicht mitzugehen.


    Anders ausgedrückt: Man kann denjenigen in GB, die sich gegen den Wahnsinn stemmen, nicht auch noch in die Fresse treten. In dem Moment, wo dieser Eindruck entsteht, wäre das Wasser auf den Mühlen der Populisten. (Und das ist der Unterschied zu Griechenland: Hier hätte der Vollzug des Austritts genau die Politiker getroffen, die mit der Volksbefragung ihre Verhandlungsposition stärken wollten. Ich bin übrigens durchaus immernoch der Meinung, dass Tsipras damals hätte durchziehen sollen. Für Griechenland - und darüber hinaus für Europa - hätte ein linker Exit als Alternative zu dem, was dort seitdem passiert ist, prinzipiell funktionieren können. Aber das wäre ein weiteres, sehr komplexes Thema.)

  • Die EU kann GB nicht rauskicken.

    Du liest aber mal wieder sehr selektiv. Ich hatte ganz bewusst noch die Erläuterung in Klammern und den nächsten Satz geschrieben. Sowie zusätzlich die Analogie mit dem gekündigten Mietvertrag. “Rausschmeissen durch die EU“ heißt hier doch nur, dass GB gekündigt hat und GB und die EU sich diesbezüglich auf Regeln sowie einen Endtermin geeignet haben. GB will jetzt nicht ausziehen, nicht bei den vereinbarten Regeln bleiben. Und hat auch keinen Vorschlag für alternative Regeln. “Rausschmeissen“ seitens der EU besteht schlicht darin, die Frist irgendwann dann tatsächlich auslaufen zu lassen.


    BJ setzt doch darauf, dass die EU immer wieder einknickt, wenn ein no deal droht. Das scheint für Deutschland auch zu stimmen. Frankreich, Belgien und u.a. Österreich hatten doch schon vor der letzten Verlängerung klare Bedingungen genannt. Nämlich dass es einen konkreten (und realistischen) Vorschlag seitens GB gibt, über den man verhandeln kann.


    Im übrigen finde ich es auch ziemlich befremdlich, dass es offenbar weit verbreitet quasi als Automatismus angesehen wird, dass der Nordirland-Konflikt neu aufflammen wird, sofern man Grenzkontrollen einführen sollte (was ja auch nicht zwingend der Fall sein muss, entsprechend der Neuordnung der Beziehungen).

  • Natürlich flammt der Nordirlandkonflikt dann sofort wieder auf. Warst du jemals in Belfast oder (London)Derry? Hast du jemals mit jemandem vor Ort gesprochen, der dir mit brüchiger Stimme und voller Wut und Trauer von dem erzählt, was da passiert ist? Der dir sagt, wie brüchig der "Waffenstillstand" (einen Frieden gibt es nämlich nicht) ist und dass es wohl noch zwei Generationen braucht, bis daraus ein dauerhafter Zustand werden könnte? Hast du dir mal angeguckt, wie die Straßen rund um die Zäune und Tore in Belfast aussehen? Wieviel tagtägliche Provokation da immer noch herrscht? Und glaubst du, die schon jetzt ansteigende Gewalt hat nichts mit dem drohenden Brexit zu tun? Dann bist du reichlich naiv.

    2 Mal editiert, zuletzt von sasa ()

  • Das ganze ist kein legalistisches Spielchen. Die EU kann - so meine Einschätzung - überhaupt nicht die Hände in dem haben, was passiert, sollten sie No Deal durch Verweigerung einer Verlängerung realisieren.


    Eine andere Einschätzung findest sich übrigens in diesem Artikel in der Financial Times. Bzw. wird hier argumentiert, dass die EU-Spitze bereit ist, Anarchy in UK in Kauf zu nehmen, um dem ganzen endlich ein Ende zu bereiten. (In dem Artikel finden sich auch interessante Erörterungen, wie die Situation direkt nach einem No Deal-Brexit eingeschätzt wird. Demnach geht man bei der EU davon aus, dass GB sofort gezwungen wäre, zu verhandeln, und dann keine Wahl hätte, als die EU-Bedingungen zu erfüllen. Das halte ich für ein unverantwortliches Power-Play, selbst wenn es klappen sollte.)

    Was Irland angeht: Direkt nach dem Referendum hatte ich das Thema auch unterschätzt. Seitdem habe ich mich zwischendurch mal ein wenig schlauer gemacht, sowohl durch Lesen als auch durch Gespräche. Eine harte Grenze in Irland würde mittel-, nicht langfristig, definitiv zum Bürgerkrieg in Nordirland mit Ergebnis Verlust Nordirland für GB führen. Die IRA ist alles andere als aufgelöst, wie mir insbesondere die Iren, mit denen ich gesprochen habe, sehr glaubwürdig und plastisch vermittelt haben. Das ist ein unglaublich disziplinierter Haufen, die stehen Gewehr bei Fuß und ihre Position ist nur stärker geworden, wohingegen sich auf der loyalistischen Seite ein gefährlicher Fatalismus breitgemacht hat.


    Und der Nordirland-Konflikt ist wirklich nur eine der vielfachen Plagen auf biblischem Niveau, die im No Deal-Fall für GB auf die Tagesordnung kommen. Wobei selbst bei einer sofortigen Brexit-Absage schon jetzt riesiger Schaden angerichtet worden ist. (Vgl. auch den FT-Artikel, in dem das zumindest angedeutet wird.)

  • Das liegt doch letzten Endes an der Einstellung der Menschen. Ich sehe nicht, was am Nordirlandkonflikt so einzigartig sein soll, dass er nicht überwunden werden kann.

  • Ich sehe nicht, was am Nordirlandkonflikt so einzigartig sein soll, dass er nicht überwunden werden kann.

    Kann er ja hoffentlich irgendwann mal, ist er aber nicht. Und wenn sich jetzt am fragilen Gebilde etwas zum Negativen ändert, reicht der kleinste Funke, um den Konflikt neu zu entfachen. Und dass genug Kräfte parat stehen, um diesen Funken zu zünden, hat Exil ja gerade auch nochmal erläutert. In zwanzig oder dreißig Jahren können wir vielleicht davon reden, dass der Konflikt überwunden ist.

    Und wenn du dich über menschliches Verhalten und die Dauer von Prozessen zum Überwinden deutlich kleinerer Dissonanzen wundern möchtest, empfehle ich einen Blick auf die deutsche Einheit.

  • Du meinst, die machen einfach Schwamm drüber wie in Palästina?

    Nein, eher das man den (geschichtlichen) Status Quo akzeptiert. Die Katholiken werden doch aktuell nicht unterdrückt in Nordirland. Wäre es aus deiner Sicht denn beispielsweise OK, wenn sich nach einem EU-Austritt Polens eine Untergrundterrorarmee bildet, die Schlesien und Pommern zurück nach Deutschland holen will?

  • Du meinst, die machen einfach Schwamm drüber wie in Palästina?

    Nein, eher das man den (geschichtlichen) Status Quo akzeptiert. Die Katholiken werden doch aktuell nicht unterdrückt in Nordirland.

    Inwieweit hast du Kenntnisse vom Nordirlandkonflikt? Und woher hast du die bezogen?

  • Nigerianischer Nobelpreisträger fordert zum Brexit eine Untersuchung des Commonwealth gegen England.


    Wole Soyinka: Commonwealth should investigate UK over Brexit


  • Das ist wieder viel zu legalistisch und abstrakt gedacht und zeugt von völliger Unkenntnis der Lage am Boden.


    Wenn wir in Polen einen Vergleich suchen, wäre die Situation eher so: Danzig wurde nie abgetreten, sondern wird - trotz polnischer Bevölkerungsmehrheit - weiterhin von der Bundesrepublik verwaltet und ist auf Seiten der Minderheit eine Hochburg eines ansonsten ausgestorbenen preußischen Militarismus. Durch Eingreifen einer höheren Macht konnte durch eine offene Grenze die polnische Mehrheit appeaced werden, wobei klar ist, dass langfristig diese offene Grenze in Verbindung mit der faktischen Dominanz der polnischen Mehrheit - Demokratie vorausgesetzt - dazu führen wird, dass sich Danzig nur mehr Polen annähern wird. Diese höhere Macht zieht sich jetzt zurück und die polnische Bevölkerung Danzigs soll wieder nach der Pfeiffe preußischer Militaristen tanzen.


    Ein skurriles Bild, keine Frage. Dennoch sehr viel dichter an der Lage in Nordirland.

    Einmal editiert, zuletzt von ExilRoter ()

  • Ich bin da nicht so im Thema aber ist die Herrschaft Londons über Wales, Schottland und Nordirland noch immer so autoritär wie zu Hochzeiten des Nirdirlandkonflikts? Die haben doch inzwischen alle eigenständige Parlamente, die die Bevölkerung realistisch abbilden, und eine weitgehend unabhängige Verwaltung. Von weiterhin bestehenden Problemen bei der nordirischen Polizei habe ich mal gelesen und das ist sicher problematisch aber sonst?