Ich bin auch kein Energieexperte. Allerdings ist es für mich nachdenkenswert, warum viele andere Länder auf der Welt eine quasi entgegengesetzte Atompolitik machen als Deutschland. Sind wir Deutschen, die deutschen Politiker und die deutschen Wissenschaftler tatsächlich soviel cleverer, gebildeter und vorausschauender als der Rest der Welt? [...]
Ich glaube nicht, daß es clevere, gebildete und vorausschauende Gründe für Kernkraft gibt. Die Intialzündung dürfte die Bombe gewesen sein. Und damit es ziviler aussah, hing man noch ein wenig Stromerzeugung dran.
Wie komme ich auf die These? Nun, in Deinem verlinkten Text zu Kernenergie weltweit steht, daß die USA, China, Frankreich und Rußland die vier größten AKW-Länder sind. Das sind auch vier Länder mit der Bombe. Da paßt die Schweiz natürlich nicht in die Liste. Da paßte Deutschland nicht in die Liste. Viele der 33 AKW-Länder passen nicht in die Liste. Was ist mit denen?
Zuerst Aus Zeitgründen nur ein Blick auf die deutsche Entwicklung. Die Fanpage von Franz-Josef Strauß schreibt über den ersten deutschen Atomminister (aus dem Atomministerium ging später das Forschungs- und Wissenschaftsministerium hervor):
Der Erforschung und friedlichen Nutzung der Kernenergie wurde in der Nachkriegszeit national wie auch international ein hoher Stellenwert als zukunftsorientiertem Wissenschaftsbereich eingeräumt, zudem sah man in ihr eine Alternative zu den bisher verwendeten Energieträgern Kohle und Wasserkraft. Einer solchen Entwicklung trug die Bundesregierung Rechnung, indem sie am 6. Oktober 1955 ein Bundesministerium für Atomfragen bildete, als dessen Leiter Bundeskanzler Konrad Adenauer seinen bisherigen Sonderminister Franz Josef Strauß berief.
Aufgabe dieses Ministeriums war es zunächst, Wissenschaft und Forschung im Bereich der Atomwissenschaft zu unterstützen, Rückstände aufzuholen und auf das Niveau anderer Länder zu kommen. Erreicht wurde dies durch die Bündelung verschiedener Zuständigkeiten an einer Stelle, wobei man sich am Vorbild entsprechender Einrichtungen in den USA, Frankreich und Großbritannien orientierte.
Technologieoffenheit, vielleicht auch unkritischer Technologieglaube, Fortschritt, Modernität, das waren die Schlagworte in den 50er Jahren. Mit anderen Worten: Prestige. Das ist nun bald 70 Jahre her, heute weiß man ein bißchen mehr über die Materie. Wobei man damals auch schon was wußte, nämlich, daß solche Kraftwerke nicht versicherbar sind. Geht was Großes schief, haftet de facto immer die Gesellschaft, die Steuerzahler.
Als eines der größten zeitlichen Hemmnisse für die privatwirtschaftliche Nutzung des Atoms hat sich nämlich sowohl in Amerika als auch in Großbritannien das Fehlen klarer Rechtsvorschriften über Fragen der Schadenshaftung und des Versicherungsschutzes erwiesen. Firmen und öffentliche Körperschaften, die in diesen Ländern Atomreaktoren in Betrieb nehmen wollten, waren oft vor den unübersehbaren Folgen von Schäden zurückgeschreckt, die möglicherweise bei der Erzeugung radioaktiver Stoffe entstehen können. Das bremste die Privatwirtschaft um so mehr, als weder amerikanische noch englische Versicherungen bereit gewesen waren, Atomrisiken zu versichern.
Daran hat sich bis heute nichts geändert.
In Deutschland zum Beispiel sind Atomkraftwerke haftpflichtversichert, aber die Versicherungssumme ist bei einigen Hundert Millionen Euro gedeckelt. Bei einem GAU könnten die Schäden aber mal schnell tausendmal so hoch ausfallen .
Zitat aus einem zehn Jahre alten Artikel aus dem »Manager Magazin«: »›Die Kernenergie ist aber letztlich nicht versicherbar‹, sagte der Versicherungsexperte Markus Rosenbaum am Mittwoch in Berlin. Wollte eine Versicherung für ein AKW ausreichende Prämien innerhalb von 50 Jahren, beispielsweise der Restlaufzeit eines Meilers, aufbauen, müsse sie pro Jahr 72 Milliarden Euro für die Haftpflicht verlangen.«
Das knüpft nahtlos an einen anderen Klassiker der Argumentation an: Atomstrom sei so billig. Nun ja... das stimmt nur, wenn man alle relevanten Kosten herausrechnet. Der Bau ist sehr teuer, der Rückbau ist sehr teuer, die Endlagerung ist unendlich teuer (dauert ja ein paar tausend Jahre), jeder größere Unfall ist privatwirtschaftlich unbezahlbar. Den Gewinn aus dem Betrieb der Anlagen nehmen Firmen gerne mit, aber das Drumherum bezahlt bitteschön jemand anderes.
1961 ging das erste Kernkraftwerk in Betrieb. "Vom Reißbrett bis zur Elektrizität kostete das Werk in Jülich 113 Millionen Mark, 78 Millionen davon schoß die Bundesregierung zu" (Der Spiegel 1967). "Vor allem Heinrich Mandel. Vorstandsmitglied des mächtigen Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerks (RWE), profilierte sich als industrieller Atomprediger. In Einzelgesprächen und Lichtbildervorträgen. auf Vorstands- und Aufsichtsratssitzungen rechnete der Professor. inzwischen auch Präsident des Deutschen Atomforums, dem Publikum unablässig die Vorzüge des Atomstroms vor.
Um mindestens drei Pfennig je Kilowattstunde sei der Strom aus dem Reaktor billiger als Elektrizität etwa aus Kohlekraftwerken. Daß allein die Bundesrepublik Deutschland bis jetzt 19 Milliarden Mark in die Entwicklung der Kernkraftwerke vorgeschossen hat, geht in die Rechnungen des RWE-Mannes nicht ein" (Der Spiegel 1977).
Ich hatte eigentlich gehofft, einen Spiegel-Essay von ca. 1980 wiederzufinden, eine Abrechnung mit der Atomkraft in Deutschland. Finde ich aber nicht mehr. Die obigen Links sind der Beifang. Sei es drum.
Das DDR-Kraftwerk Lublin wird seit über 30 Jahren zurückgebaut. Ist immer noch nicht fertig. Der NDR dazu:
""2016 haben wir abgeschätzt, dass wir insgesamt für den Rückbau etwa 6,4 Milliarden Euro eingestellt haben. Natürlich immer unter akribischer Prüfung. Das muss auch so sein, denn man darf nicht vergessen: Das ist unser aller Geld. Das ist Steuergeld", erklärt Ramthun." Das Handelsblatt schrieb vor 10 Jahren über andere AKW: "Eine Milliarde Euro wird der Abbau von Würgassen bis 2014 gekostet haben. Im Durchschnitt kostet der Rückbau eines AKWs laut Unternehmensangaben 1,2 Milliarden Euro. Dazu kommen noch die Kosten für die Entsorgung des hochradioaktiven Abfalls." Kostenschätzungen haben allerdings irgendwie immer die Angewohnheit, mit den Jahren weiter anzusteigen.
Umweltministerin Merkel hat Asse genehmigt. Die Fehlentscheidung kostet Milliarden. Bundeskanzlerin Merkel hat 2017 die Ewigkeitskosten von den Schultern der Betreiber genommen, indem die einmalig 23 Mrd für die Endlagerung in einen Topf zahlen und wenn das Geld alle ist, springt der Steuerzahler ein. Den rotgrünen Atomausstieg hat sie 2010 rückgängig gemacht, um dann nach Fukushima ein halbes Jahr später wieder eine Rolle rückwärts zu machen. Aber nicht per Gesetz, sondern per Moratorium - die Grundlage erfolgreicher Klagen der AKW-Betreiber. Nicht, daß ein falsches Bild entsteht: Merkel war bei weitem nicht der einzige Entscheidungsträger, der pro Atomstrom war.
Nach dem Ölpreisschock 1973 hatte die Atomkraft bestimmt zusätzlichen Rückenwind bekommen. 1986 explodierte Tschernobyl, und der Wind dreht wieder. Auch das ist ein Grund, warum ich aktuelle Umfragen zur Atomstrombeliebtheit unwichtig finde. Solche Umfragen sind von aktuellen Emotionen geprägt. 2011 wurden die Grünen so stark, daß sie sogar die CDU aus der baden-württembergischen Landesregierung verdrängte. In Umfragen standen sie bundesweit bei 25 Prozent. Gab aber keine andere Parlamentswahl in der Zeit, und die Umfrage- und Wahlergebnisse normalisierten sich wieder recht schnell. Ein halbes Jahr, dreiviertel Jahr, spätestens ein Jahr später haste vom Fukushima-Effekt bei den Grünen nichts mehr gesehen. Und 2022 ist halt Gas so teuer geworden. Ist doch klar, daß plötzlich alles attraktiver erscheint als Gas. Das dreht sich auch wieder. Ich würde Entscheidungen, die die Zukunft auf Jahrzehnte hinaus prägen, nicht gerne nach dem Fähnchen im Winde ausrichten wollen.
Japan setzt auf Atomkraft, weil es so wenig eigene Ressourcen hat. Aber Uran hat es auch nicht so viel, oder? 1977 schrieb der Spiegel von einer Uran-Mine im Niger, die Japan versorgen soll. Im gleichen Text gibt es auch noch eine Portion Geopolitik dazu. Ist Japan nicht eine Inselgruppe, zum Teil im subtropischen Raum gelegen? Dann sollte es Wind und Sonne satt geben. Ist da nicht ein Ozean in der Nähe? Gibt es sowas wie ein Gezeitenkraftwerk? Alternativen wären also da.
Wenn ich über Frankreichs Energiepolitik lese, dann stoße ich schnell auf die Schilderung, der Stromkonzern EDF sei mächtig. Macht ist definiert als die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und durchzuführen / durchführen zu lassen. Nach Fukushima haben wir alle über die Presse von Tepco erfahren: "Und beide, Industrie und Behörden, sind wiederum eng mit der Politik verwoben: Das Management von Tepco gehört zu den wichtigen Parteispendern der konservativen Liberaldemokratischen Partei (LDP). Die Gewerkschaft der Beschäftigten in der Stromindustrie wiederum unterstützt die Demokratische Partei (DPJ), der auch Premierminister Kan angehört. Einen atomkritischen Kurs hat sich bislang keine der beiden Parteien geleistet." (Der Spiegel 2011)
Eine viel zu kurze Recherche über Finnlands Motive führte mich zum Guardian, der schildert, daß Finnland ein Nettoimporteur von Strom im großen Stile ist. Das Defizit soll von 13 auf 5-8 TWh pro Jahr mit dem Start des neuen AKW sinken. Nun, das hat mit Deutschlands Situation nicht viel zu tun. Dann braucht es auch nicht als Vorbild für Deutschland herhalten.
Überall ist der Einstieg in und der Verbleib im Atomstrom eine politische Entscheidung gewesen. Motive: Ein bißchen Macht, ein bißchen Geld, ein bißchen Pretige und ein bißchen Pöstchengeschachere. Ist das gleiche wie in der Verkehrspolitik auch