Ich überlege schon seit einiger Zeit, ob ich zu diesem Thema abschließend noch etwas schreiben (und es mir damit mit allen Seiten verscherzen ) soll oder ob ich es lieber sein lasse. Im Sinne der Psychohygiene schreibe ich einfach mal ein paar Zeilen nieder.
Hier wurde in den letzten Monaten viel, mitunter zu viel, geschrieben und eigentlich ist jede Meinung zur Genüge vertreten worden. Was ich auch an anderen Stellen in diesem Forum, insbesondere aber hier vermisst habe, ist die Empathie. Und vielleicht sollten wir mal kurz klären, was Empathie überhaupt ist:
Laut Duden ist Empathie die "Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Einstellungen anderer Menschen einzufühlen". Empathie ist also nicht zwangsläufig etwas Gutes, Empathie ist auch nicht, wenn ich jemandem etwas Gutes (oder etwas, was ich als gut erachte...) wünsche, Empathie ist primär etwas Neutrales, nämlich wie oben beschrieben die Fähigkeit und Bereitschaft, mich in die Perspektive und die Gefühle eines anderen Menschen hineinzuversetzen. Eine handelsübliche Enzyklopädie führt das noch etwas weiter aus, dazu weiterführend zwei sehr interessante Artikel vom Deutschlandfunk: Empathie – eine überschätzte Fähigkeit und Die dunkle Seite der Empathie.
Was will ich damit eigentlich sagen? Wir haben eine Situation, wie sie die meisten von uns wahrscheinlich noch nie erlebet haben. Ich wüsste nicht, dass es seit Ende des Krieges einen Zustand gegeben hat, wo quasi die komplette Bevölkerung in ihrer Lebensweise und in ihrem Alltag direkt betroffen war. Für über 80 Millionen Menschen (ich beziehe mich der Einfachheit halber nur auf Deutschland und beziehe alle gleichermaßen mit ein) hat sich innerhalb kürzester Zeit etwas geändert und jeder empfindet diese Situation mit diesen Veränderungen anders - ganz einfach deshalb, weil jeder anders davon betroffen ist.
Kinder und Jugendliche können ihre Freunde nicht mehr so sehen, nicht mehr so mit ihnen spielen, wie es vor der Pandemie der Fall gewesen ist. Gastronomen und Einzelhändler bangen um ihre Existenz, stehen mitunter kurz vor dem Ruin, verlieren all das, wofür sie ihr Leben lang hart gearbeitet haben. Pflegeheimbewohner können kaum noch Besuch empfangen und sind noch isolierter als sie es so schon waren. Viele Studenten und Arbeitnehmer im Home Office verloren ihre Tagesstruktur. Paare und Familien hocken in kleinen Wohnungen aufeinander und können sich kaum aus dem Wege gehen. Kulturschaffende hängen seit Monaten in der Luft, haben Existenznöte. Kranke lassen ihre Arzttermine sausen, aus Angst vor einer Infektion. Psychisch Erkrankte bekommen keine Therapieplätze mehr, weil die Plätze auf viele Monate belegt sind. Hunderttausende Menschen haben ihre Mini-Jobs verloren und nun Geldsorgen. Nur, um mal einige zu nennen, es ließe sich noch eine ganze Weile fortsetzen.
Ich sage es an dieser Stelle ganz deutlich: Ich will mir nicht anmaßen zu analysieren, ob die getroffenen Maßnahmen richtig oder falsch sind. Ich werde auch nicht bewerten, wer nun mehr oder weniger wie auch immer geartetes Recht auf Gesundheit, Leben und Freiheit hat. Mir geht es rein um den Umgang der Menschen miteinander und darum, dass die Menschen versuchen sich gegenseitig besser zu verstehen.
Es wurde hier in der Vergangenheit von einigen Leuten viel und scharf gegen die geschossen, die versucht haben darauf hinzuweisen, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zwar möglicherweise die Infektionszahlen senken, auf der anderen Seite aber auch große Schäden, insbesondere gesundheitliche, verursachen. Dann wurde von der Gegenseite nicht minder scharf zurückgeschossen, dass ihnen die Gesundheit ihrer Mitmenschen egal wären und sie nur ihre eigene Freiheit sähen.
Wie wäre es denn stattdessen gewesen, sich erst einmal in den Gegenüber hineinzuversetzen und erst dann zu urteilen? Wenn man in seinem Elfenbeinturm sitzt mit ausreichend Platz im großen Einfamilienhaus mit Terrasse und Garten und sich überlegt, welche Farbe denn das nächste E-Auto haben soll, dann mag das zwar nichts verwerfliches sein, ist aber dennoch eine gänzlich andere Situation, als wenn man mit einer fünfköpfigen Familie in einer Vierraumwohnung am Mühlenberg haust und der Vater gerade seinen befristeten Job verloren hat. Wenn erster dem zweiteren sagt "Da müssen wir jetzt mit durch, mir geht's ja auch nicht besser", dann kann ich schon verstehen, wenn zweiterer dem ersteren die blanke Kimme zeigt.
Den wohl besten Beitrag zu diesem Thema hat vor einiger Zeit mustermann geschrieben. Ich finde ihn gerade nicht wieder, aber er schrieb sinngemäß, dass es für jemanden, der schon vieles im Leben hinter sich und erlebt hat, einfacher gesagt ist, als für junge Leute, die gerade vieles verpassen, was für "uns" das Erwachsenwerden ausgemacht hat.
Ein kompletter Jahrgang Abiturienten konnte keinen Abi-Ball feiern. Gleiches gilt natürlich für Absolventen anderer Schulformen. Studenten, die nun erstmalig das Elternhaus verlassen und im Studium all das erleben wollen, wovon ihnen ihre Eltern erzählt haben, haben dieses Jahr keine Ersti-Woche mit Feiern bis zum Abwinken. Sie können ihre Kommilitonen kaum kennen lernen, weil sämtliche Vorlesungen online stattfinden, Auslandssemester fallen komplett aus. Klar, man kann auch nächstes Jahr eine Party schmeißen und das "Abschlussball" nennen, es ist aber nicht das gleiche wie direkt nach der Zeugnisausgabe. Die meisten von uns wissen wie geil das damals war, endlich Abi, dann als junger Volljähriger mit den alten Schulfreunden den geilsten Sommer des bisherigen Lebens verbringen, endlich frei sein und dann ab ins Studium, neue Leute kennen lernen, neue Stadt kennen lernen, neue Erfahrungen für's Leben sammeln. Mindestens ein Jahrgang hat das alles nun nicht, sie erleben diese eigentlich so tolle Zeit ganz anders. Und ich sage damit nicht, dass deshalb alle Maßnahmen infrage gestellt werden sollen, ich sage nur, dass ich die jungen Leute verstehen kann, die nun missmutig sind.
Es wurde auf die Situation von Kindern hingewiesen und die Auswirkungen auf ihre (soziale) Entwicklung, wenn sie ihre Freunde nicht mehr wie gewohnt zum Spielen sehen können. Das endete dann irgendwann damit, dass einzelne hier schreibende Elternteile von ihren eigenen Kindern berichteten, mit denen alles tacko sei. Natürlich mit dem obligatorischen Hinweis, dass man nicht für andere sondern nur für sich sprechen könne, logisch.
Es mag ja auch sein, dass nicht alle Kinder aus allen Familien gleichermaßen betroffen sind. Aber hier sind wir wieder beim Elfenbeinturm: Es gibt leider Gottes Kinder, die es in ihren Familien nicht ganz so gut haben und die sehr wohl darunter gelitten haben, dass sie wochenlang nicht zur Schule gehen konnten und immer noch darunter leiden, nachmittags nicht mit der besten Freundin durchs Kinderzimmer toben zu können. Natürlich liegt es in der Verantwortung der Eltern dafür zu sorgen, dass es ihren Kleinen trotzdem gut geht, aber machen wir uns nichts vor: Solche Eltern hat nicht jedes Kind und für nicht wenige Kinder ist die Schule der sichere Hafen, der eigentlich die Famiie sein sollte. Meine Nichte übrigens wächst zwar in stabilen und liebevollen Verhältnissen auf, ist aber trotzdem traurig und merklich ruhiger geworden, seitdem sie nicht mehr mit ihren Freundinnen toben darf. Was das langfristig mit ihr macht kann ich natürlich nicht sagen.
Auch auf psychische Erkrankungen wurde hier zuhauf hingewiesen. Ich muss sagen, dass ich kürzlich ziemlich sprachlos war, als anlässlich des elften Todestages von Robert Enke seiner gedacht wurde, nur am danach hier im Faden zu lesen, mit was für einer Kälte die Auswirkungen der Maßnahmen auf die Psyche abgekanzelt wurden. Ich weiß nicht ob es Ignoranz ist oder ob einigen nicht ganz klar ist, dass das eine das andere bedingt. Ich muss offen zugeben, dass ich schlimme polemische Gedanken hatte und fragen wollte, ab wann ein Depressiver denn mit Mitgefühl rechnen darf, ob man dazu erst berühmt sein und sich wirklich erst vor einen Zug schmeißen muss.Tut mir leid, aber es gibt User, die vermehrt auf ihre eigene psychische Situation hingewiesen haben und ja, sie waren und sind wirklich anstrengend und auch nervend, aber gerade hier zu diesem Thema schlug ihnen teilweise eine Ignoranz und Kälte entgegen, die nicht mehr feierlich war. Ich glaube, vielen ist nicht ganz klar, was es heißt depressiv zu sein und von jetzt auf gleich seine komplette Tagesstruktur zu verlieren, die einem so etwas wie Sicherheit im Alltag gegeben hat. Wie gesagt, den Gegenwind generell haben sich diese User redlich erarbeitet, aber die Art und Weise der Reaktionen war zuweilen... Puh.
Es geht mir weder darum sie und ihre Art zu schreiben zu verteidigen, es geht mir auch nicht darum, ich wiederhole mich, die Maßnahmen zu verteufeln, es geht mir darum, dass verstanden wird, dass nicht wenige Menschen zur Zeit richtig leiden und zu kämpfen haben. Ich habe kürzlich mal irgendwo erwähnt, dass ich mit einem Aufnahmearzt einer psychiatrischen Klinik gesprochen habe. Der sagte klipp und klar, dass es bereits jetzt eine deutliche Zunahme stationär behandlungsbedürftiger depressiver Erkrankungen gibt und dass diese noch weiter zunehmen werden. Ursachen u.a. sind wie schon erwähnt der Wegfall der Tagesstruktur, Existenzängste, aber auch der Verlust von Sozialkontakten in gewohnter Form und die Reduzierung von Ausgleichsaktivitäten in der Freizeit. Es mag sein, dass es die meisten hier irgendwie gewuppt bekommen, aber ich finde es nahezu zynisch, hierbei von sich auf andere zu schließen indem man, wenn auch nur zwischen den Zeilen, sagt, man solle sich mal nicht so anstellen, am besten noch mit dem Verweis, dass man selbst es schließlich auch hinbekäme. Nochmal: Jeder erlebt und empfindet eine Situation anders. Diese unterschiedlichen Empfindungen sorgen dafür, dass objektiv identische Situation persönlich vollkommen unterschiedlich wahrgenommen werden können. Das ist kein möchtegern-philosophischer Scheiß, sondern Basiswissen in der Psychologie.