Politischer Zoff-Thread oder so

  • Es beginnt schon damit, dass man die drei Länder nicht in einen Topf werfen kann. Der Nordirlandkonflikt ist eine komplett andere Liga. Unter anderem deshalb, weil Nordirland gar kein eigenständiges Land im historischen Sinne ist, sondern ein abgetrennter Teil Irlands.

  • Genau das. Im Übrigen sind Gesetze und Regionalparlamente immer das eine, die Alltagspraxis mit ihren individuellen Vorteilsgewährungen und Benachteiligungen (z.B. auf dem Arbeitsmarkt) aber das andere. DAS zu überwinden, dass also die kulturelle Zugehörigkeit im Alltag keine Rolle mehr spielt, dauert eben nicht bloß ein paar Jahre. Da sind wir schnell mal bei 50, 100 und mehr Jahren angekommen.

  • Es beginnt schon damit, dass man die drei Länder nicht in einen Topf werfen kann. Der Nordirlandkonflikt ist eine komplett andere Liga. Unter anderem deshalb, weil Nordirland gar kein eigenständiges Land im historischen Sinne ist, sondern ein abgetrennter Teil Irlands.

    Ich wollte die Länder nicht in einen Topf werfen. Ich habe gefragt, ob immernoch so eine krasse Vorherrschaft Londons ggü. den übrigen Teilen Großbritanniens besteht.

  • Die Fragen der Selbstbestimmung von Schottland und Wales (historisch könnte man auch noch Cornwall ergänzen) sind absolut nicht mit Nordirland zu vergleichen. Der Konflikt ist viel jünger, er ist sehr präsent und va noch in der allgemeinen Erinnerung, es gibt weiterhin paramilitärische Strukturen, Religion spielt eine große Rolle, und, wie sasa schon schrieb, es geht um ein geteiltes Land. Nur über die EU konnte diese Teilung zumindest im Lebensalltag praktisch baw überwunden werden (nicht aber in vielen Köpfen).

  • Nein, die besteht nicht mehr. Ein Großteil des Konflikts findet aber auch nicht auf politischer, sondern auf menschlicher Ebene statt. Politisch besteht in Nordirland aktuell mehr oder weniger ein Patt. Sollte es aber den Anschein geben, dass eine der beiden Parteien ihr Bestreben (vereinigtes Irland vs. engerer Anschluß an GB) doch wieder durchsetzen möchte, wird das Pulverfass explodieren. Und ein No Deal wäre ein wahrscheinlicher Funke.

  • Also lieber ein schlechter Deal für Europa, um Nordirland zu schützen (stark vereinfacht ausgedrückt). Aber wäre das nicht ebenso riskant, da er (meiner Meinung nach) die komplette EU und den ganzen Kontinent destabilisieren könnte. Der Osten rückt wieder näher an Russland. Der Balkan fällt wieder übereinander her. Die ETA erhebt sich wieder. Etc pp. Ich wäre ja am liebsten für eine Aufrechterhaltung des Status quo. Am allerliebsten wäre mir eine Aufnahme Großbritanniens in den Euro und so weiter. Aber jemandem der raus will, aus freien Stücken, noch Zugeständnisse zu machen. Da habe ich schon Bauchschmerzen.

  • Es geht weniger darum, dass die irische Seite (Was eigentlich auch schon wieder eine unzulässige Verallgemeinerung wäre) ihre Vorstellungen einer irischen Einheit nicht aufgeben möchte. (Was sie ja sogar tatsächlich - unter den Umständen einer offenen Grenze getan hat. Und was die irische Republik angeht, wollte die das eh nie so richtig. Die Ideologie der IRA richtete sich traditionell genauso gegen die Republik und für ein sozialistisches Irland. Aber das ist alles über alle Maßen komplex, verwirrend und gerade deswegen ist diese Mehrdeutigkeit charakteristisch für den Konflikt.)


    Die irische Seite hat praktisch gewonnen. Es ist die "loyalistische" Seite (Anführungszeichen deswegen, weil die nicht jemand drittem loyal sind, dann könnte man sie ja abrufen) sowie englischer Nationalismus und Militarismus, die nie zulassen wird, dass sich das in einer Aufgabe Ulsters manifestiert.


    Das alles ist eng verwoben mit dem - vornehmend englischen - Trauma vom Verlust des Empires. Dieselben Triebkräfte, die GB einen Krieg um ein paar Schaafherden hat führen lassen.


    Die IRA wird ein Zurückdrehen des Rades auf Mitte 90er nicht zulassen. Die Loyalisten werden eine offene Aufgabe Nordirlands unter keinen Umständen hinnehmen. Das ist ähnlich wie mit Jerusalem: Das ist nur scheinbar ein religiöser Konflikt. Der ist in einem höheren, politischen, identitätsstiftenden Sinne religiös und das ist das Problem. Wie die Lebenssituation von wem genau aussieht, ist nachrangig.


    EDIT: Im Grunde geht es nicht um Nordirland oder Irland sondern um "(Groß-)Britannien als politisches Konzept."

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  • Also lieber ein schlechter Deal für Europa, um Nordirland zu schützen (stark vereinfacht ausgedrückt). Aber wäre das nicht ebenso riskant, da er (meiner Meinung nach) die komplette EU und den ganzen Kontinent destabilisieren könnte. Der Osten rückt wieder näher an Russland. Der Balkan fällt wieder übereinander her. Die ETA erhebt sich wieder. Etc pp. Ich wäre ja am liebsten für eine Aufrechterhaltung des Status quo. Am allerliebsten wäre mir eine Aufnahme Großbritanniens in den Euro und so weiter. Aber jemandem der raus will, aus freien Stücken, noch Zugeständnisse zu machen. Da habe ich schon Bauchschmerzen.

    Es werden ja momentan gar keine Zugeständnisse abseits eines ausverhandelten Deals gemacht. Und der ist - nach meinem Ermessen - relativ fair für beide Seiten und entspricht im weitesten Sinne einer Fortführung des Status Quo ohne Mitgliedschaft. Das einzige Zugeständnis ist, dass man den Briten bisher ausreichend Zeit gibt, damit sie ihren vermeintlichen Fehler nochmal überdenken können.


    Und nochmal zum Vergleich von Nordirland mit Schottland: Wenn man die Situation der beiden Länder unbedingt vergleichen wollte, müsste man das Nordirland von 2019 grob gesagt mit dem Schottland von 1760 (irgendwo zwischen Bonnie Prince Charlie und den Highland Clearances) vergleichen. Damals schwand der aktive Widerstand der schottischen Bevölkerung gegen die britischen Besatzer aus verschiedensten Gründen, es blieben aber Wut und Separationsgedanken, die erst mit dem Laufe der Zeit eine weniger präsente Form annahmen (aber noch immer nicht weg sind, wie aktuelle Entwicklungen ja zeigen). Gib Nordirland also ca. 250 Jahre Zeit ohne Gewalt und Konflikte und wir können darüber reden, ob nicht langsam mal alles gut sei und man den Nordirlandkonflikt nicht einfach mal vergessen könne.

  • Also lieber ein schlechter Deal für Europa, um Nordirland zu schützen (stark vereinfacht ausgedrückt). Aber wäre das nicht ebenso riskant, da er (meiner Meinung nach) die komplette EU und den ganzen Kontinent destabilisieren könnte. Der Osten rückt wieder näher an Russland. Der Balkan fällt wieder übereinander her. Die ETA erhebt sich wieder. Etc pp. Ich wäre ja am liebsten für eine Aufrechterhaltung des Status quo. Am allerliebsten wäre mir eine Aufnahme Großbritanniens in den Euro und so weiter. Aber jemandem der raus will, aus freien Stücken, noch Zugeständnisse zu machen. Da habe ich schon Bauchschmerzen.

    Es werden ja momentan gar keine Zugeständnisse abseits eines ausverhandelten Deals gemacht. Und der ist - nach meinem Ermessen - relativ fair für beide Seiten und entspricht im weitesten Sinne einer Fortführung des Status Quo ohne Mitgliedschaft. Das einzige Zugeständnis ist, dass man den Briten bisher ausreichend Zeit gibt, damit sie ihren vermeintlichen Fehler nochmal überdenken können.


    Und nochmal zum Vergleich von Nordirland mit Schottland: Wenn man die Situation der beiden Länder unbedingt vergleichen wollte, müsste man das Nordirland von 2019 grob gesagt mit dem Schottland von 1760 (irgendwo zwischen Bonnie Prince Charlie und den Highland Clearances) vergleichen. Damals schwand der aktive Widerstand der schottischen Bevölkerung gegen die britischen Besatzer aus verschiedensten Gründen, es blieben aber Wut und Separationsgedanken, die erst mit dem Laufe der Zeit eine weniger präsente Form annahmen (aber noch immer nicht weg sind, wie aktuelle Entwicklungen ja zeigen). Gib Nordirland also ca. 250 Jahre Zeit ohne Gewalt und Konflikte und wir können darüber reden, ob nicht langsam mal alles gut sei und man den Nordirlandkonflikt nicht einfach mal vergessen könne.

    Nochmal: ich habe Schottland und Nordirland nicht verglichen.


    Zu deinem ersten Absatz: eine Aufrechterhaltung des Status quo ohne Mitgliedschaft finde ich schon ein ziemlich großes Zugeständnis. Wofür brauchen wir dann noch eine EU? Und die Zeit die man den Briten gibt um ihren Fehler zu überdenken, haben sie bislang ausschließlich genutzt um alles noch schlimmer zu machen.

  • Was ist denn schlimmer geworden? Bisher ist doch rein gar nichts passiert. Und was wäre die Alternative. Keine Fristen mehr verlängern und am 31.10. einen No Deal-Brexit durchziehen? Und damit sehenden Auges und ohne Grund in einen Bürgerkrieg rennen?

  • Durch den jetzigen - vom Parlament abgelehnten - Deal verliert GB Zugang zum Markt als auch die Vorteile der Zollunion, also dass die EU bessere Zollabkommen mit Dritten abschließen kann, als GB alleine. Insofern es doch drinbleibt (Nord-Irland, auf eine unbestimmte und unabsehbare Zeit) haben die Briten keine Mitsprache über die Regeln des Marktes oder die europäischen Zölle.


    D.h. letztlich hätten die Briten ziemlich genau den Schaden, der sich aus dem Verlust der (wirtschaftlichen) Vorteile, die mit der EU-Mitgliedschaft verbunden sind, ergibt. Das erscheint mir prinzipiell fair und die britische Souveränität zu respektieren.


    Dass die Tories das nicht wollten, d.h. dass sie den Brexit wollten aber die Konsequenzen nicht, ist das eigentlich irre daran, auf dieser einfachen tit-for-tat-Ebene. Ich finde, das hat einen hochgradig schizophrenen Zug, aber das scheint die Position zu sein, die große Teile der Insel haben.


    Alternativ hätte man, wie Norwegen, den Marktzugang behalten können, aber die Mitspracherechte über die Regeln des Marktes abgeben müssen. Auch das hätte die Brexit-Phantasien auf den Boden zurückgeholt.

    EDIT: Vielleicht liegt das Problem darin, dass, wannimmer der Brexit konkretisiert wird, egal wie, er halt sichtbar wird, als das, was er ist: Ein Haufen Scheiße. Ob nun Deal oder No Deal.


    Was heißt, dass der Brexit in den Köpfen der Brexiteers _nicht_ Scheiße ist, d.h. ein Phantasma.


    Und es drängt sich mir wieder meine Überlegung vom Anfang auf. Wenn man einen Plan hätte, wie man es besser macht, wenn man konkrete Pläne für ein Post-Brexit-GB hätte, etwas, wofür es sich lohnt, das politische EU-System loszuwerden, weil das damit nicht möglich ist, dann könnte man den Preis, den man bereit wäre, dafür in Kauf zu nehmen, grob abschätzen und aufwiegen. Aber das haben sie ja nicht.


    Und: Natürlich gibt es noch die Gefahr, dass ein (No Deal-)Brexit kommt, rein aufgrund der Eigendynamik des Prozesses. Obwohl der nicht im Interesse der Briten liegen kann.

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  • Gibt es denn wirklich keine Möglichkeit zu einem wiederholtem Reverendum?


    Ich kenne da keine aktuellen Umfragen, vermute aber, dass der Ausstieg nichtmehr Volkes Wille ist. "Das Volk" war damals unzureichend Aufgeklärt, heute mit den Realitäten konfrontiert stellt sich der Sachverhalt ganz anderes dar.


    Irgendwie leuchtet mir nicht ein, warum erkannte/gemachte Fehler nicht korridiert werden können. Da würde bei mir jegliches Vertrauen in das System verloren gehen.

  • 1000 Abstimmungen über mehr oder weniger den gleichen Scheiß im Parlament? Demokratie!

    Ein erneutes Referendum? Bist du verrückt, du EU-Schwein, das wäre total undemokratisch.

  • Der Ausgang eines Referendums wäre ungewiss.


    Man sollte meinen, die britische Öffentlichkeit hätte aus all dem, was passiert ist, was gelernt. Stattdessen hat sich in jedem Fall die Brexit-Seite nur noch mehr eingegraben.


    Schlagzeile des Daily Express zum Geschehen im Parlament: "Parliament surrenders to the EU". (via Guardian.)


    Das soll jetzt nicht heißen, dass ich gegen ein erneutes Referendum wäre. Immerhin wäre dann um einiges klarer, worüber abgestimmt wird. Das Problem ist, denke ich, eher, dass der harte Kern der Brexiteers sich jetzt schon festgelegt hat, für das Scheitern ihres Phantasmas die Schuld - wem wohl? - Brüssel bzw. Europa zu geben. Die graben sich nur noch tiefer ein. ("Jetzt schon" ist übrigens falsch ausgedrückt. In einem anderen Forum hatte ich das von Anfang an gesagt: Es wird ein riesiges Chaos geben, von dem unmöglich ist, zu sagen, wie es genau aussehen wird, mit einer Ausnahme: Schuld wird wieder die EU sein, das ist sicher.)


    D.h. selbst wenn das Referendum gegen Brexit ausfällt, driftet die Brexit-Fraktion, in jedem Fall der harte Kern, nur noch mehr ab. Einsehen, egal ob in die realen Verhältnisse oder in das Ergebnis eines Referendums, ist nicht zu erwarten.


    So ist das mit Wahnvorstellungen. Man kommt da nicht so einfach raus.

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  • Ja, dass die Konservativen laut Umfrage 8 % vorne liegen, werde ich wohl auch nicht mehr verstehen. Ich verstehe den Wähler aber auch nirgend anders. :|

  • Wenn der Brexit aber nun ein Haufen Scheiße ist (eine Einschätzung, die ich durchaus teile), dann wird das Problem doch nicht durch ein zweites Referendum gelöst (wie lautet die Frage diesmal?), sondern nur durch eine politische Kraft, die mit der Aufgabe des Brexit in Parlamentswahlen geht und gewinnt. Ich stecke nicht tief drin, aber wenn Labour den Brexit auch will, dann scheint es diese No-Brexit-Partei ja nicht zu geben. Also fährt das Schiff auf ewig von Aufschub zu Aufschub.

  • LibDems sind aktuell die No-Brexit-Partei.

    Aber da das Mehrheitswahlrecht ein Haufen Scheisse ist, haben die es sehr schwer Sitze zu bekommen.

    Überhaupt sehe ich so viel Reformbedarf in der britischen Demokratie. Kann ich nur leider gerade nicht in der gebotenen Tiefe ausführen. Ich meine jedenfalls nicht den ganzen putzigen Kitsch von anno Knack, der gerne als Folklore bleiben darf, sondern hauptsächlich das Wahlrecht und weitere Besonderheiten mit konkreten politischen Auswirkungen.

    Wäre das politische System schon beizeiten reformiert worden, wäre man wahrscheinlich nie in diese aktuelle Bredouille gekommen.


    Btw: Top-Beiträge von Exil und sasa hier im Thema.

  • Das weiß ich halt nicht, ob sich die Labour Nasen sich nurdem ersten Reverendum verpflichtet sehen, und diesen "Auftrag" jetzt versuchen umzusetzen. Gut, daß die lieber drinbleiben wollen hab ich auch nicht gehört.


    Aber ein neues Reverendum wäre, wenn es für den Verblieb in der EU ausfällt, super umzusetzen, egal wer die Wahlen gewinnt.