Welche Marxisten denn? Nur weil einige, mich eingeschlossen, mehr soziale Gerechtigkeit und Verantwortung einfordern (ich fordere das im Übrigen von allen Bürgern, nicht nur von den Bossen), sind wir Marxisten? Perfekte Gerechtigkeit wird realistischerweise sicher keiner fordern, ich jedenfalls nicht, aber sie sollte das Ideal eines guten Staates darstellen. Im Übrigen kann die (utopische) Theorie von Karl Marx auch nicht mit dem Realsozialismus gleichgesetzt werden, aber das ist ein anderes Kapitel.
Und es steht ja wohl außer Frage, dass der globalisierte Kapitalismus teilweise Züge eines Turbokapitalismus bekommen hat. Die Ausbeuterei, die im 19. Jh bei uns stattgefunden hat, findet jetzt halt in China, Indonesien usw. statt -- und hintenrum kommt sie auch wieder hierher zurück, indem die niedrigen Lohnkosten dort hier als Druckmittel dienen. Eure als selbstverständlich betrachteten Lebens- und Arbeitsbedingungen heute sind die Folge eines über 100 Jahre dauernden Kampfes der Gewerkschaften, übrigens ursprünglich mal inspiriert durch die sozialistische Bewegung -- auch wenn ich der Meinung bin, dass sich die Gewerkschaften entsprechend der modernen Anforderungen dringend neu zu orientieren und zu reformieren haben. Die Zeit vor der Globalisierung hat gezeigt, dass das Modell einer sozialen Marktwirtschaft funktionieren kann, übrigens überwiegend unter einer konservativen Regierung, also warum soll das nicht auch in einer globalisierten Welt als globale soziale Marktwirtschaft klappen? Und was passiert eigentlich, wenn die Menschen in den Niedriglohnländern ihrerseits mal anfangen, für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu kämpfen? Ich hoffe jedenfalls und gehe davon aus, dass auch diese Auseinandersetzung in den nächsten Jahrzehnten global geführt und auch das "sozial" ein globaler Begriff wird.
Nochmal: Ich habe nichts gegen Marktwirtschaft und Kapitalismus, sondern halte sie für die am Besten funktionierende Wirtschaftsordnung. Aber wenn die Ungerechtigkeiten weiter zunehmen und es keine Einsicht seitens der Lenkenden gibt, wird die Unzufriedenheit der immer größer werdenden Gruppe der Menschen zunehmen, die die Verlierer sind. Irgendwann entsteht dann eine reale Gefahr für Freiheit, inneren und äußeren Frieden und Demokratie. Insofern ist das "sozial" (per Definition u.a. "das Gemeinwohl betreffend", also uns alle) nicht überholt. Langfristig und mal nur den reinen Nutzen betrachtend hilft die Beachtung dieses kleinen Zusatzes allen mehr, ob Arbeiter/Angestellter oder Boss. Oder warum schützen sich die Wohlhabenden z.B. in Südafrika oder Russland mittlerweile durch meterhohe Mauern mit Stacheldraht, scharfe Hunde etc.? Und warum sind z.B. Kriminalität, Terrorismus und politischer Radikalismus dort am Geringsten, wo die Leute ihren Lebensunterhalt gesichert wissen? (Und ist das eigentlich noch Lebensqualität, wenn ich mich nicht mehr aus dem Haus trauen kann, nur weil ich einigermaßen wohlhabend bin?)
Genau diese Debatte wollte wohl auch Münte anstoßen, natürlich auch durch den Wahlkampf motiviert, aber es ist ja einfacher, ihn als Marxisten zu beschimpfen, anstatt sich mit seinen Argumenten (die auch ich teilweise für übertrieben halte) mal sachlich auseinanderzusetzen zu müssen. Habe fertig.