www.sueddeutsche.de: Der Schulmeister als Entertainer

  • Der Schulmeister als Entertainer



    Wo der Erfolg herkommt: Seit Trainer Ewald Lienen Fehler einräumte, gewinnt Hannover 96 Spiel um Spiel. von Jörg Marwedel


    Wenn Martin Kind, der Präsident von Hannover 96, über seine leitenden Angestellten Ewald Lienen und Ilja Kaenzig spricht, huscht ein beinahe versonnenes Lächeln über das kantige Unternehmergesicht.


    Er setzt dann an zu einer Laudatio, die in schriftlicher Form ein prächtiges Arbeitszeugnis abgeben würde. Die Qualitäten des im Frühjahr aus Leverkusen abgeworbenen Managers Kaenzig beschreibt er so:


    „Gute kaufmännische Ausbildung. Hervorragende Kenntnisse des deutschen und internationalen Marktes, der Statuten und im Vertragsmanagement. Abgezockter, qualifizierter Gesprächs- und Verhandlungspartner. Beherrscht die Spielregeln des Geschäfts.“


    "Intellektuell vernünftig aufgestellt"


    Am Fußballlehrer Lienen wiederum hebt Kind hervor, dieser sei „intellektuell vernünftig aufgestellt“ und „in der Lage, Ziele zu formulieren, ihre Umsetzung zu begleiten und die Situation immer wieder kritisch zu analysieren“. Zudem setze er sich „sehr seriös auch mit anderen Sichtweisen auseinander, ohne sich zu verbiegen“. Kurz: „Ich habe jetzt ein Umfeld, das ich mir seit Jahren gewünscht habe.“


    Kind ist ein erfolgreicher mittelständischer Unternehmer. Zu seinem Lieblingsvokabular gehören Wörter wie „Turnaround“, „operative Umsetzung“ oder „Planungssicherheit“. Und er ist mehr denn je überzeugt davon, dass sich die Kriterien der Wirtschaft auch auf Fußballunternehmen übertragen lassen. Die vergangenen Wochen haben ihn in seiner Meinung nachhaltig bestärkt.


    Fünf Siege in Serie haben Hannover 96 in diesem Zeitraum vom letzten auf den vierten Platz der Bundesliga-Tabelle katapultiert, einen Rang über den Rekordmeister und heutigen Gegner FC Bayern.


    Für Kind, den durch und durch logisch denkenden Patriarchen, ist es nur folgerichtig, diese Serie nicht als fußballerisches Glück zu interpretieren, sondern als „Ergebnis konsequenter Arbeit“ und, „nach drei Lehrjahren in der Bundesliga“, als Beginn einer Entwicklung, an deren Ende Hannover 96 einer der professionellsten Klubs in Deutschland sein soll.


    Strenger Wächter über Disziplin und Fitness


    Und Lienen, der strenge Wächter über Disziplin und Fitness, erscheint ihm mehr denn je als geeigneter sportlicher Begleiter der gewünschten Kontinuität. Schon jetzt hat Kind dem Coach eine Verlängerung des 2005 auslaufenden Vertrages in Aussicht gestellt. Undenkbar, dass der Klubchef mit ihm regelmäßig verbale Fehden über die Medien austragen würde wie einst mit Lienens emotionalem Vorgänger Ralf Rangnick.


    Dabei gibt es in Hannover noch immer genug 96-Freunde, die das plötzliche Hoch der Roten eher einem Mirakel zuschreiben als dem Trainer, dessen Rauswurf sie noch im September vehement gefordert hatten. Sie wollen nicht glauben, dass Lienen nun ein ganz anderer sein soll als der, den sie in ihm sahen. Womöglich viel selbstkritischer, lernfähiger und bereiter, seine Entscheidungen zu überdenken. So, wie Kind ihn beschreibt.


    Es schien ja auch jedes Klischee zu stimmen: Lienens Ruf als verkniffener Schulmeister, der den Profis mit seinen vielen Vorschriften die Freude am Fußball nahm, bis sie Tabellenletzter waren. Eine selbst vor eigenem Publikum praktizierte, wenig erbauliche Kontertaktik, welche die Fans nostalgisch vom risikofreudigen Abenteuerfußball Rangnicks träumen und die vielen Gegentore vergessen ließ, die das Team unter dessen Regie kassiert hatte – bis im März Lienen kam und einen Abwehrwall konstruierte, bei dem sogar die Stürmer auf der eigenen Torlinie retten mussten.


    Abneigung gegen Künstler


    Dazu kam Lienens vermeintliche Abneigung gegen lockere Künstlertypen wie Nebojsa Krupnikovic (Spielmacher) und Thomas Christiansen (Torjäger), die er Monate lang links liegen ließ. Begründung: mangelnde Leistungsbereitschaft. Doch die Kreativität und der Torinstinkt dieser Spieler fehlten dem Team. Ins Bild passte schließlich, dass der Trainer den Zeitungen Stimmungsmache vorwarf. Alles schien auf ein Scheitern Lienens zusteuern.


    Was dann geschah, verblüffte tatsächlich. Lienen räumte öffentlich eigene Fehler ein. Nach Christiansen holte er auch Krupnikovic ins Team zurück. Beide glänzen seitdem mit großem Engagement und hoben das Niveau spürbar. Er wagte etwas mehr Offensive. Und er öffnete sich ein wenig den Medien, gab im ZDF-Sportstudio sogar den Plauderer. Präsident Kind ist nun vom positiven Lauf der Dinge überzeugt. Die nächste Phase hat er mit der sportlichen Leitung schon definiert.


    Überzeugte die Mannschaft bislang vor allem durch „Loyalität, taktische Disziplin und Lauffreudigkeit“ (Kind), soll sie im nächsten Schritt „attraktiv, offensiv und erfolgreich“ spielen. Die von Kind so geschätzte „Planungssicherheit“ würde sich dann fast zwangsläufig einstellen.


    Manager Kaenzig führt, anders als in früheren, von Abstiegsangst geprägten Jahren, schon jetzt die ersten Gespräche mit 96-Profis, deren Kontrakt am Saisonende ausläuft. Steve Cherundolo zählt dazu, Julian de Guzman und Kapitän Altin Lala, allesamt begehrte Spieler auf dem Markt. Kaenzig will dabei so selbstbewusst argumentieren, wie man es noch nicht kannte in Hannover.


    „Mit dieser Mannschaft“, wird er sagen, „ist noch einiges möglich.“ Clint Mathis allerdings wird das alles nicht mehr erleben. Der Amerikaner, der Lienen im September mit obszönen Gesten vor einem Millionenpublikum verhöhnte, wird in der Winterpause gehen. „Er will sich wohl nicht ändern“, Kaenzig. Für solche Leute scheint das „neue“ Hannover tatsächlich der falsche Ort zu sein.