NZZ: Auf ausländischen Fussballplätzen - Hannover schwärmt wieder vom «roten Riesen»

  • Auf ausländischen Fussballplätzen
    Hannover schwärmt wieder vom «roten Riesen»


    Wenn Ilja Kaenzig den Schweizer Freunden und ehemaligen Kollegen von den beruflichen Perspektiven mit dem neuen Arbeitgeber Hannover 96 erzählen soll, dann greift der jüngste Bundesliga-Manager gern auf einen Satz zurück, den man von europäischen Grosskonzernen kennt, die auf dem asiatischen Markt Fuss fassen wollen. «Ein schlafender Riese erwacht», heisst das geflügelte Wort über Wirtschaftszonen in China oder die Südostasien-Region mit den prosperierenden Tigerstaaten Thailand und Vietnam.


    Doch Aufbruchstimmung in der niedersächsischen Fussball-Metropole ist doch etwas Neues oder Ungewohntes, wiewohl ergraute Zeitzeugen behaupten, in früheren Bundesliga-Epochen wären allein 50 000 ins Niedersachsen-Stadion gepilgert, wenn dort nur schon das Flutlicht angegangen sei. Ein Phänomen, das man in Deutschland sonst nur von der königsblauen Brüderschaft von Schalke 04 kennt. Auf alle Fälle kann sich kaum ein Mensch an eine ähnliche Euphorie und ein nur annähernd ganzheitliches Bild erinnern, wie es Hannover 96 im November 2004 abgibt. Sieben Siege aus acht Partien, im DFB-Pokal unter den letzten acht, und nur, weil die Shooting Stars dieser Runde vor zehn Tagen beim Gipfeltreffen im Münchner Olympiastadion etwas erschrocken waren vor der eigenen Courage, stehen statt Ewald Lienens Leuten nun die Rekordmeister vom FC Bayern auf Platz zwei.


    Zugegeben, zum Herbst gehört ja auch der September, und am Ende jenes Monats zierten die «Roten» das Tabellenende, und nach der 0:1-Heimniederlage gegen Arminia Bielefeld wünschten Tausende Fans und ein gutes Dutzend Sportjournalisten aus dem 96er-Verbreitungsgebiet Lienen zum Kuckuck. Schon nach einem guten halben Jahr war es zu jenem Punkt gekommen, den Umfeld, Mannschaft und Medien über ihre Beziehung zum Disziplinfanatiker und Ernährungs-Asketen aus der Geschichte einer ganzen Handvoll Lienen-Klubs schon kennen - es geht eigentlich nichts, aber auch gar nichts mehr. Und wäre der 3:1-Auswärtserfolg bei Rostock, mit dem die Aufholjagd gestartet wurde, nicht gerade rechtzeitig und im allerletzten Moment eingetroffen, der 50-jährige Lienen würde heute nicht als «Kulttrainer» gefeiert, sondern würde entweder Bewerbungsschreiben verfassen oder im stillen Kämmerlein vor sich hin leiden am Verfolgungswahn gegenüber Deutschlands Medien.


    Der Mann habe sich geändert, sagen alle, die mit dem Umschwung bei Hannover 96 zu tun haben. Nicht nur dahin, dass er mit den bösen Buben von der Presse gemeinsam Fussball spielt oder im «Sportstudio» anstatt des oberlehrerhaften Analytikers den versucht lockeren Entertainer mimt. Eher war es ein mannschaftsinterner Prozess, wobei Lienen ein paar seiner eigenen Ansichten korrigierte - und dies, wohl zur eigenen Verwunderung, ohne Gesichtsverlust schaffte. Denn ausgerechnet die lockeren Künstlertypen wie der Spielmacher Krupnikovic und der Goalgetter Madsen, die er wegen mangelnder Leistungsbereitschaft praktisch aussortiert hatte, drehten nach ihrer «Begnadigung» das Spiel von Hannover 96 in die richtige Richtung: nach vorne. Ebenfalls in der Reserve entdeckte Lienen den Stürmer Schröter neu. Der kann seit Wochen aufs Tor schiessen - er trifft fast immer, und niemand weiss, warum er früher regelmässig am Kasten vorbeigeballert oder den Torhüter angeschossen hatte.


    Eine zweite Erklärung betrifft die Abwehr in den vergangenen zwei Runden nach dem Wiederaufstieg stets die Problemzone. Mit dem lange Zeit arbeitslosen Keeper Robert Enke (früher FC Barcelona und Benfica Lissabon) besitzt Hannover «Deutschlands derzeit stärksten Torhüter». So lobt ihn jedenfalls Ex-Coach Ralf Rangnick aus dem Westen. Der würde ihn am liebsten mit seinem Lieblingsspieler, dem rechten Verteidiger Steve Cherundolo, zu Schalke locken. Einmal abgesehen von Per Mertesacker, dem 20-jährigen Internationalen, der gerade dabei ist, die Tradition deutscher Weltklasse-Stopper wie Förster, Kohler, Buchwald fortzuschreiben.


    Es hat den Anschein, als habe sich da nicht nur in der Führung mit Präsident Martin Kind, dem sicherlich immer noch schwierigen Lienen und dem professionellen Manager Kaenzig ein Team eingespielt, das nach seiner ersten Bewährungsprobe auch einmal schwierigere Zeiten meistern könnte. Solange die Mannschaft weiterhin ihre Harmonie und das neue Selbstwertgefühl pflegt, erntet der neue Goalgetter Schröter keinen Widerspruch, wenn er behauptet: «Wir haben vor der Saison schon gesagt, dass das Kader Qualität hat, jetzt merken alle, was möglich ist».