Holger, das sogenannte "Moral Bombing" war eine in der Zwischenkriegszeit ersonnene Doktrin. Wahrscheinlich hatte man den Schrecken, den erste größere Bombenangriffe im Ersten Weltkrieg anrichteten, und die Möglichkeit, den Krieg weit ins feindliche Hinterland zu tragen, als psychologisches Mittel ausgemacht und erstmal überschätzt. Kein Wunder, denn so eine Möglichkeit der Kriegführung gab es vorher ja nicht und die Möglichkeiten schienen enorm.
Alle europäischen und nordamerikanischen Großmächte, soweit ich weiß aber auch Japan, haben irgendwie an diese Doktrin geglaubt. Alle haben sie geglaubt, mit gezielten Luftangriffen auf die Zivilbevölkerung Panik auszulösen und schließlich den von inneren Konflikten überwältigten Gegner zur Kapitulation zwingen zu können. (Die Doktrin stammt übrigens ursprünglich aus Italien.) Im Deutschen Reich war dieser Gedanke schon vor 1933 in Militär und Politik verbreitet. Eine bizarre Fußnote ist dabei übrigens, dass die Deutschen geglaubt haben, dass die Leute in einer Demokratie besonders anfällig für die Wirkungen seien -- und die Westalliierten umgekehrt, dass die innere Stabilität in einer Diktatur besonders schnell zerbröseln würde. Beide haben sich geirrt und die Erfahrung gemacht, dass sich die Bevölkerung dann nur noch stärker um die eigene Führung schart und der Widerstandswille zunimmt.
Bei der moralischen Bewertung muss man deshalb im Hinterkopf haben, dass man zunächst sogar an eine "Humanisierung" des Krieges gedacht hat: Innerer Zusammenbruch, Kapitulation, langwierige Eroberungen mit großen Verlusten nicht mehr nötig (das Trauma des Ersten Weltkriegs!). Die Geschichte hat gezeigt, dass diese Rechnung nicht aufgeht. Die Amerikaner haben übrigens ein Stück weit geglaubt, dass man in Deutschland damit keinen Erfolg haben würde (und haben bei ihren fast nur bei Tag geflogenen Angriffen primär Ziele wie Ölraffinierien, Rangierbahnhöfe oder Munitionsfabriken angegriffen -- mit der damals natürlich unvermeidbaren Menge an Fehlwürfen). Dafür haben sie die Japaner für so psychologisch minderwertig gehalten, dass sie dort umso heftiger mit Brandbomben angegriffen haben. Hiroshima und Nagasaki waren ja noch nicht mal die Angriffe mit den höchsten Opferzahlen. Im März 1945 starben bei einem einzigen Angriff auf Tokio über 100.000 Menschen!
Spätestens Mitte 1944 war aber eigentlich allen Kriegsparteien klar (oder hätte klar sein müssen), dass die Strategie des Moral Bombing nicht aufging. Trotzdem haben die Deutschen die "Vergeltungswaffen" auf London losgelassen und die Westalliierten in den letzten Kriegsmonaten mehr Bomben abgeworfen als im ganzen Krieg davor. Die Japaner haben in China weiter gehaust wie die Barbaren, die Deutschen in Osteuropa usw. Die Maschinerie hatte aus vielen Gründen eine solche Eigendynamik bekommen, dass sie sich nicht mehr stoppen ließ.
Entscheidend ist also vor allem die Frage, welche Lehren man daraus zieht. Und da gibt es in der Tat eine Reihe von Defiziten. Das gilt einmal für die historische Aufarbeitung: die Kriegsschuld von Japan und Deutschland und die von ihnen angerichteten Verbrechen und von ihnen maßgeblich betriebene radikale Entmenschlichung des Krieges lassen sich durch den Luftkrieg der Alliierten ebenso wenig relativieren wie durch die Vertreibungen im ehemaligen Ostdeutschland, auch wenn beides Unrecht war!!! Zum Zweiten gilt es für die Frage von jeweiligen Verantwortungen als auch für die Lehren und moralischen Schlüsse für die heutige Kriegsführung.