ZitatAlles anzeigenDas Geheimnis der Bananenflanke
Von Almut Steinecke
Was den Ball um die Ecke fliegen lässt, wie das damals in Wembley war, warum die Bananenflanke krumm ist - das alles kann Professor Metin Tolan erklären. Die Glücksformel fürs WM-Jahr hat er obendrein: Der Dortmunder Physiker weiß, wieso wir Weltmeister werden.
Es ist Samstag. Es ist kalt. Es ist kurz nach neun Uhr morgens, für studentische Verhältnisse tief in der Nacht. Drei Gründe, lieber im Bett zu bleiben? Nicht an diesem Wochenende. Die volle S-Bahn spuckt Studenten an der Haltestelle Uni Dortmund aus, dick eingemummelt traben sie über den zugigen Campus zum Hörsaalgebäude II. Dort erlebt Physikprofessor Metin Tolan, 40, den Traum eines jeden Dozenten: Junge Menschen halten ihm die Tür zum Saal auf, in dem er gleich seinen "Beitrag zum WM-Jahr" leistet - und das eine gute Stunde vor dem akademischen Anpfiff. "Dafür stehen alle extra früher auf", sagt Tina Büth, 18, aus dem sauerländischen Altena. Und auch ältere Hörer lockt der Vortrag: "Mir ist nicht klar, wie Fußball mit Physik zusammenhängt, umso neugieriger bin ich jetzt", freut sich Borussia-Anhänger Gerd Bongartz, 70, aus Dortmund.
Wobei man ja munkelt, Herr Tolan sei Stuttgart-Fan. Der Dozent bestätigt dieses unerhörte Gerücht. "Aber ich halte auch immer den Dortmundern die Daumen", sagt er und streicht sein neongelbes BVB-Shirt glatt, das unter dem dunklen Jackett hervorblitzt. Heimvorteil hat der Dortmunder sowieso: Der Hörsaal hat 460 Plätze, bald drängen sich 600 Zuschauer auf Bänken, Treppen, herangeschleppten Stühlen. Per Mikro bittet Tolans Assistent, der 40-jährige Professor Manfred Bayer, "die Packungsdichte in den einzelnen Reihen zu erhöhen", damit alle was von der "Physik des Fußballspiels" haben.
Metin Tolan kommt schnell zur Sache - mit trockenen Gleichungen, aber vor allem mit bunten Videoszenen aus Fußballspielen. Tolan nutzt die Leinwand immer dann aufflackern, wenn das Hirn sich zu verknoten droht. "Wissen Sie, was eine modifizierte Besselfunktion nullter Ordnung mit dem Argument A ist?", blinzelt der Professor treuherzig in die Runde, knipst den Videobeamer an und lässt Giovanni Trappatoni die Antwort bellen: "Stelle Se de Kollege de Frage!"
Einfacher gestaltet sich da schon die Überlegung, wie eine "Bananenflanke" funktioniert, jener kunstvolle Schuss-um-die-Ecke, mit dem der HSV-Star Manni Kaltz schon in den Achtzigern die Abwehr austrickste. Tolan zeigt dazu die Szene eines Duells zwischen Brasilien und Frankreich von 1997, als Roberto Carlos ein Freistoßtor per Kunstschuss erzielte. "Das beruht auf dem Magnus-Effekt", erklärt Metin Tolan: Um den Ball in einer bananenförmigen Bahn nach links um die gegnerische Mauer herum ins Tor zu befördern, kickte Carlos das Leder mit dem Außenrist seines linken Fußes leicht rechts vom Schwerpunkt. Durch dieses geschickte Antreten bekam der Ball einen Drall und rotierte entgegen dem Uhrzeigersinn.
Roberto Carlos half der Magnus-Effekt
Damit eine Bananenflanke gelingt, muss der Ball mit etwa 100 Stundenkilometern wirbeln, sich dabei mehr als acht Mal pro Sekunde um die eigene Achse drehen. Dabei reißt das Leder Luft mit in die Richtung, in die es rotiert - in Roberto Carlos Fall also von rechts nach links. Die rechte Ballseite drehte sich gegen die Luftströmung, auf dieser Seite prallte mitgerissene Luft auf entgegenkommende Luft. Die Luftschichten wurden abgebremst, rechts entstand ein Überdruck. Anders auf der linken Seite: Hier drehte sich der Ball zwar gegen die Flugrichtung, aber mit der vorbeiströmenden Luft, wodurch die Luftschichten nahe am Ball schneller flossen - links entstand ein Unterdruck.
Beim Schuss von Carlos wich der Ball wich dem höheren Druck aus und flutschte in der gekrümmten Flugbahn nach links. "So lautet die landläufige Erklärung für den Magnus-Effekt", sagt Metin Tolan. In Wahrheit sei aber alles noch etwas kniffliger. "Verantwortlich für den Effekt ist nämlich eine durch die Nähte am Fußball bedingte asymmetrische Ablösung von Luftwirbeln oder Wirbelschleppen, die an der einen Ballseite verfrüht vor sich geht, auf der anderen Ballseite verspätet... aber das ist eigentlich zu kompliziert, vergessen Sie's gleich wieder." Der Wissenschaftler winkt ab, die Zuschauer lachen.
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Für ein einfaches Mädchen vom Land ziemlich verwirrend, für die meisten Fußballer sicher auch: Tolans Formel für die Bananenflanke.
Tolan lockert seine Vorlesungen gern mit Beispielen aus der realen Welt auf und besorgt sich Anschauungsmaterial in Bereichen, die ihn auch privat interessieren. Sein Faible für unterhaltsame Wissenschaft führte ihn letztes Jahr in die Welt von James Bond: In seinen Vorlesungen lüftete der Physiker Agenten-Geheimnisse - warum der Wodka-Martini geschüttelt und nicht gerührt sein muss, ob Bond wirklich mit seiner magnetischen Uhr Reißverschlüsse schöner Frauen öffnen kann.
Im kommenden Semester verlängert Tolan seine reguläre Vorlesung zur Quantenmechanik einfach um eine freiwillige halbe Stunde und beschäftigt sich mit Fußball. Seine Vorlesung am Samstag ist der Auftakt. "Ein Riesenspaß hier", findet Marc Schultz. Von allen Zuhörern hatte er bestimmt den weitesten Weg: Der 22-Jährige, der in Dortmund Physik studiert, macht eigentlich gerade ein Auslandsjahr in Paris und ist extra für die Vorlesung ein Wochenende nach Hause gekommen.
Klarer Fall: Deutschland ist wieder dran
Zu groß war seine Neugier, warum man zum Beispiel Tore nicht einfach größer macht als 7,32 Meter breit und 2,44 Meter lang. Denn dann könnten doch mehr Bälle im Kasten landen. "Mit dem Ansteigen dieser Wahrscheinlichkeit würde die Chance für das schwächere Team abnehmen, zu gewinnen, das Spiel würde gerechter - und uninteressanter", sagt Metin Tolan. "Fußball ist aber nun mal ungerecht, dafür interessant!".
Das illustriert er mit dem noch heute umstrittenen Wembley-Tor in der Verlängerung des Spiels Deutschland gegen England, das den Briten 1966 zum WM-Sieg verhalf. Dabei war der Ball gerade für zwei hundertstel Sekunden knapp hinter der Torlinie im Kasten, und das auch nur in der Luft, wie Metin Tolan mittels Zeitraffer auf der Videoleinwand demonstriert. "Das menschliche Auge hatte eigentlich nicht den Hauch einer Chance, das unter normalen Umständen zu erfassen - aber das ist ja das Schöne an der Physik, dass man die Dinge völlig emotionslos analysieren kann."
Das wünscht er sich auch dringend im Umgang mit seiner "WM-Formel", mit der er berechnet hat, warum wir dieses Jahr Weltmeister werden. Das dürfe man "bitte nicht ernst nehmen!", fleht Tolan. Und dann präsentiert er die Glücksformel für WM-Jahr. Als Basis errechnete Tolan die Siegerwahrscheinlichkeit aus den mittleren Torraten der Teilnehmer aller bisherigen WM-Spiele. Demnach kommt Brasilien auf Platz eins mit 15,56 Prozent; Deutschland lungert auf Platz vier mit 10,69 Prozent Siegerwahrscheinlichkeit.
Die ließe sich durchaus auf 33,18 bzw. 56,39 Prozent steigern, wenn Klinsmanns Kinder-Kicker nur beherzt genug einlochen: "Dann müssten wir im Schnitt ein bzw. zwei Tore mehr schießen." Wie wär's mit 90 Prozent? "Dann müssten es acht Tore mehr sein", grinst Metin Tolan. Aber da ist ja auch noch der Heimvorteil. Und zusätzlich ermittelte er einen Periodenwert von 4,5: "Alle vier bis fünf Weltmeisterschaften hat Deutschland Siegerstärke."
Zum Beweis blickt Tolan in die Vergangenheit. Danach beschreibt das Aufeinanderfolgen der WMs, in denen Deutschland den Titel abräumte, eine periodische Reihe mit den Zahlen 5-5-4: 1954, bei der fünften WM seit 1930, sei Deutschland zum ersten Mal Weltmeister geworden. Und trug das nächste Mal im Jahr 1974 die Trophäe nach Hause, also bei der fünften Meisterschaft nach dem ersten Sieg. Dann erneut 1990: die vierte WM nach dem zweiten Triumph. Um diese Abfolge fortzuführen, müsste jetzt erneut die Zahl 4 auftauchen. Und das tut sie auch, ganz gewiss: "Da dieses Jahr wieder eine vierte WM (nach dem dritten Deutschlandsieg) ist, wird 2006 die periodische Reihe fortgesetzt."
Halten Sie mich für verrückt, halten Sie mich für übergeschnappt. Aber Professor Metin Tolan hat klar bewiesen: Deutschland wird Weltmeister. Und dann ist die Vorlesung Aus! Aus! Aus!
[URL=http://www.spiegel.de/unispiegel/wunderbar/0,1518,398127,00.html]quelle[/URL]
...wie geil ist das denn