Neues aus der Wissenschaft

  • Eigentlich ist die Thread-Überschrift für das, was heute vermeldet wurde, viel zu "klein", aber da ich kein anderes Thema gefunden habe, könnte dieses hier ja in Zukunft als Sammel- und Diskussionsstelle für die Wissenschaft dienen.


    Los geht's mit dem Higgs-Boson, dessen wahrscheinliche (!) Entdeckung heute bestätigt wurde: "Danke, Natur" (sueddeutsche), Pressemeldung DESY.


    Nach diesem Teilchen wurde seit Jahrzehnten geforscht, es wurde von theoretischen Physikern (unter anderem von Peter Higgs) als Teil des Standardmodells (Theorie, die die Welt im "Allerkleinsten" zu erklären versucht) vorhergesagt. Die Suche nach diesem Teilchen (und anderen) hat Milliarden verschlungen.


    Das Besondere am Higgs-Boson, das (von den Medien) auch Gottesteilichen genannt wird: Hätte man irgendwann festgestellt, dass es nicht existiert, dann wäre das Standardmodell komplett in sich zusammengefallen. Denn: Ohne Higgs-Boson gäbe es im Standardmodell (vereinfacht gesagt) keine Erklärung mehr für die Masse. Wäre toll für fette Menschen, wäre doof für das Standardmodell. Jahrzehntelange Forschung wäre in sich zusammengefallen.

  • Jaja. "Gottesteilchen" ist lustig. Ein Wissenschaftler, der über das Teilchen schrieb, schrieb über das "gottverdammte Teilchen". Fand sein Verlag doof und machte daraus das "Gottesteilchen". Ähnlicher Mist wie der "Quantensprung".

  • Danke, 123.
    Vor allem für die Richtigstellung der Namensgebung.
    Was, wie, wo und wieviele habe ich auch nach mehrmaligem Leseversuch einiger Artikel nicht ansatzweise begriffen.
    Masse für Teilchen. Ja, ok. Verstehe ich soweit. Auch die Problematik mit dem Standardmodell, etc.
    Aber der (vermutliche) Nachweis ist mir eindeutig zu nerdig und zu abgedreht. :)

  • Tja, wenn jetzt aber die Physik die Religion ersetzt, wird aber auch etwas neues nerdiges und abgedrehtes benötigt. Boson statt Wiederauferstehung. Ist doch okay.

  • Aber der (vermutliche) Nachweis ist mir eindeutig zu nerdig und zu abgedreht. :)


    Eigentlich ist der gar nicht so kompliziert. Zumindest das Prinzip nicht.


    Stell dir vor, du hättest Autos, von denen du vermutest, dass in ihnen eine bestimmte Schraube verbaut ist, die etwas kürzer oder länger ist als die übrigen Schrauben. Die einzige Möglichkeit, deine Vermutung zu untersuchen, ist es, die beiden Autos mit sehr, sehr hoher Geschwindigkeit ineinander rasen zu lassen und den Crash und das Auseinanderfliegen der Teile mit verschiedenen Kameras zu fotografieren. Von der Idee her passiert genau das im LHC.


    Teilchen (Protonen, Elektronen, Blei-Ionen) werden mit extrem hoher Geschwindigkeit zur Kollision gebracht. Dabei zerschellen sie in riesige Mengen anderer Teilchen, die es zu "fotografieren" gilt. Das Problem ist, dass diese Teilchen nicht sehr lange "leben": Wir reden hier über Größenordnungen von weniger als 10^-8 Sekunden (0,00000001 s). Danach wandeln sie sich in andere Teilchen um. (Beispiele: Das Strange-Quark existiert 1,24·10^-8 s und ist damit echt langlebig, W-Bosonen schaffen nur 3·10^-25 s = 0,0000000000000000000000003 s).


    In dieser kurzen Zeit muss dann die (Ruhe-) Masse des Teilchens bestimmt werden; diese wird in eV angegeben (also in Elektronenvolt), was eigentlich eine Energie-Angabe ist. Die Zahlen werden aber durch diese Umrechnung handhabbarer, denn 1 eV entspricht (etwas ungenau formuliert) einer Masse von 1,783·10^-36 kg. Hier kommt übrigens Einstein ins Spiel: E = m·c² <=> m = E/c².


    Anhand der Masse/Energie der detektierten Teilchen kann man nun sagen, welches Teilchen da gerade vorliegt. Da bei diesen vielen Nachkommastellen sich Fehler sehr, sehr stark auswirken, wird die eindeutige Zuordnung entsprechend schwierig. Um die Auto-Analogie zu nehmen: Man müsste Anhand der Fotos entscheiden, ob die Schraube 5,25346 cm lang ist oder vielleicht doch nur 5,25320 cm. Beim Higgs-Boson wurde von der Theorie vorhergesagt, dass es eine Masse von ca. 123-161 GeV haben muss. Die jetzt entdeckten Teilchen liegen bei 125,3 +/- 0,6 GeV. Könnte passen. Könnte aber auch sein, dass man sicher (einigermaßen oft) vermessen hat.


    Mit einem Crash ist es da also nicht getan. Du siehst da zwar die Schraube, die du in Verdacht hast, die gesuchte zu sein, bist dir aber nicht sicher. Also wiederholst du den Crash immer und immer wieder. Je öfter du dann bei diesen Crashs "deine" Schraube vermutlich findest, desto sicherer kannst du dir sein, dass sie es tatsächlich ist. Es gibt dann zwar immer noch die Möglichkeit, dass du dich irrst, aber die Wahrscheinlichkeit dafür wird immer geringer. Nächste Analogie: Du möchtest überprüfen, ob eine Münze beim Münzwurf gezinkt ist. Deine Vermutung ist, dass die Wahrscheinlichkeit Kopf zu werfen höher ist als Zahl zu werfen. Das überprüfst du, indem du die Münze sehr oft wirfst und guckst, ob Kopf und Zahl einigermaßen gleich oft auftreten. Wenn du 1000x geworfen hast und du 600x Kopf hattest und nur 400x Zahl, wirst du vermuten, dass die Münze gezinkt ist. Sie kann aber auch okay sein! Du kannst nur eine gewisse Sicherheit angeben, mit der du sagen kannst, ob die Münze gezinkt ist oder nicht. Und das ist diese 5-Sigma-Geschichte, von der die Rede ist. Hat was mit Stochastik zu tun, möchte ich aber jetzt nicht auch noch erklären, sonst wird es noch erschlagender als es eh schon ist. Jedenfalls ist die Bedeutung: Ist man sich bei den Messungen so sicher, dass man im 5-Sigma-Bereich angelangt ist, so kann man davon ausgehen, dass die Münze wirklich gezinkt ist. Oder das Teilchen wirklich entdeckt wurde. Beim Higgs-Boson liegen wir wohl derzeit bei 4,9 Sigma - und damit noch leicht außerhalb.


    (Ganz schön freakig alles, oder? :D)




    Wie ändert sich mein Leben dadurch, dass entweder das Higgs-Boson oder aber ein völlig neues Teilchen entdeckt wurde? Physiker vor ;)


    Erst einmal gar nicht. Darum geht es aber dabei auch nicht. Es ist Grundlagenforschung. Dein Leben hat sich auch nicht dadurch verändert, dass Biologen herausgefunden haben, dass das menschliche Genom mit dem einer Fruchfliege sehr gut übereinstimmt. Für die weitere Forschung ist es aber sehr bedeutsam - als Grundlage eben!


    Indirekt kann es aber durchaus zum Profit für einen selbst kommen. Um Elementar-Teilchen zu detektieren und zu erzeugen mussten viele Dinge erst einmal erfunden werden. Einige davon werden inzwischen in der Medizin eingesetzt.


    Weiter muss man sagen: Auch die SRT (Spezielle Relativitätstheorie) war zuerst ohne Bedeutung für uns. In ihr wird ja auch Folgendes gesagt: Nimmt man zwei Zwillinge und schickt einen davon mit nahezu Lichtgeschwindigkeit 50 Erden-Jahre lang durchs Weltall, so ist bei seiner Rückkehr der Zwilling auf der Erde - oh Wunder - 50 Jahre älter geworden. Der reisende Zwilling ist aber jünger als sein Bruder.


    Ohne Bedeutung für dich und dein Leben? Denkste, Puppe! Unsere GPS-Satelliten bewegen sich mit 3874 m/s (12.000 km/h) und damit gehen ihre Uhren pro Tag 0,000007 s (7 Mikrosekunden) langsamer als unsere auf der Erde. Was macht das schon? 1 Mikrosekunde Ungenauigkeit pro Tag entspricht mehr als 250 m Ungenauigkeit bei der Navigation - ärgerlich, wenn man sich durch eine unbekannte Stadt navigieren lassen will. :)


    In sofern: Mal gucken, welche (in)direkte Bedeutung das Higgs-Boson noch für "uns" haben wird.

  • :herz: Großartig, 123. Vielen Dank für diese verständlichen Erläuterungen. Das darfst Du gerne öfter machen!

  • bist du eigentlich physiker oder hast du nur "das universum in einer nußschale gelesen"? ;)


    und danke, so haben sich einige fragen geklärt.

  • Sagen wir: Mein Lebensweg ist einige Jahre parallel zu dem von Physikern (und Mathematikern) gelaufen und jetzt muss ich den Mist, den ich selbst auch nur teilweise verstehe, anderen näher bringen. ;)


    Schön, wenn mir das hier ein wenig gelungen ist.

  • Großartig, 123!


    Und damit im Grunde auch der Beleg, dass der Hype zur Zeit noch nicht angebracht ist. Um es mit Utze zu sagen: Weitermachen! (Noch mehr Tests!)

  • Falls jemand das ganze noch vertiefen möchte, kann ich in dem Zusammenhang auch das Buch Die Vermessung des Universumsvon Lisa Randall (Professorin in Havard) empfehlen. Hier werden der LHC und alle damit verbundenen Fragen auch für Nicht-Physiker intuitiv gut erklärt. Ich habe jedenfalls sehr viel verstanden (und hatte wirklich nur ganz rudimentäre Physikkenntnisse).


    Die spannendste Frage bleibt aber wohl (für immer?) unbeantwortet: Was war vor dem Urknall? Logisch gibt es nur zwei Erklärungen. 1.) Nichts; 2.) Unendlichkeit. Beides übersteigt die menschliche Vorstellungskraft und lässt einen schwindelig werden, wenn man genau drüber nachdenkt.

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  • Ist man sich bei den Messungen so sicher, dass man im 5-Sigma-Bereich angelangt ist, so kann man davon ausgehen, dass die Münze wirklich gezinkt ist. Oder das Teilchen wirklich entdeckt wurde. Beim Higgs-Boson liegen wir wohl derzeit bei 4,9 Sigma - und damit noch leicht außerhalb.

    Ich dachte, es gab zwei von einander unabhängige Experimente mit folgendem Ergebnis: 4,9 sigma bei CMS und 5,0 sigma bei ATLAS.