Neurodiversität: Asperger, ADHS, Tourette und alles andere Nicht-Neurotypische

  • Ich stehe schon länger vor dem Problem, wo ich meine ADHS-Erkenntnisse zur Diskussion stellen kann. Die passen weder in "Krankheiten" noch in "Depression" oder irgendwo anders, also mache ich mal einen neuen Thread auf.


    Kurz zum Begriff: Wikipedia:

    Zitat

    Neurodiversität bezeichnet gemäß dem an der Syracuse University gehaltenen National Symposium on Neurodiversity ein Konzept, in dem neurobiologische Unterschiede als eine menschliche Disposition unter anderen angesehen und respektiert werden. Es betrachtet atypische neurologische Entwicklungen als normale menschliche Unterschiede. Da es Menschen jedweden neurologischen Status umfasst, sind alle Menschen demnach neuro-divers. Der Begriff Neuro-Minderheit („neurominority“) verweist auf Menschen, die als Minderheit nicht neurotypisch sind. [...]


    Laut Pier Jaarsma (2011) ist Neurodiversität ein „kontroverses Konzept“, das „atypische neurologische Entwicklungen als normale menschliche Unterschiede betrachtet.“ Diese Unterschiede können nach dem National Symposium on Neurodiversity solche beinhalten, die mit Dyspraxie, Dyslexie, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Dyskalkulie, Autismusspektrum, Tourette-Syndrom und anders bezeichnet werden.


    Dazu könnte man noch einiges mehr zählen, ich als ADHS-ler denke da natürlich erstmal an ADS (Also das Teil ohne Hyperaktivität, man kann jetzt darüber streiten, in welcher Beziehung die stehen, ob das nicht dasselbe mit unterschiedlicher Äußerung ist) und "Sluggish Cognitive Tempo", SCT (und dafür gilt wieder dasselbe wie die letzte Klammer).


    Aber eigentlich wollte ich erstmal nur das hier posten: (Leider englisch) ADHS-"Werbespot":


    Externer Inhalt www.youtube.com
    Inhalte von externen Seiten werden ohne deine Zustimmung nicht automatisch geladen und angezeigt.
    Durch die Aktivierung der externen Inhalte erklärst du dich damit einverstanden, dass personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu haben wir in unserer Datenschutzerklärung zur Verfügung gestellt.


    P.S.: Bei dieser Gelegenheit nicht zu vergessen: Vielen herzlichen Dank an die Asperger-Community, die im Bereich Neurodiversität die Pionierarbeit gemacht hat!

    2 Mal editiert, zuletzt von ExilRoter ()

  • Cooles Video, erinnert mich an die vielen Filme über Asperger die zum Romantic Comedy Genre gehören. Im Film ist es lustig und man lacht darüber, in Wirklichkeit ist es aber genau umgekehrt.

  • Naja, das ist kein Unterhaltungsprodukt, sondern es geht erstmal darum, Bewußtsein zu schaffen, dass ADHS sehr real ist.


    Hier ist derselbe Rick Green in einem TED-Talk, wo er berichtet, wie er auf die Diagnose im Alter von 47 reagiert hat. Diese Reaktion, in vielen bis allen Facetten, kommt tatsächlich auch in der Komplexität relativ häufig vor, würde ich sagen, nachdem ich jetzt eine ganze Reihe von erwachsen diagnostizierten ADHSlern kennengelernt habe.


    Externer Inhalt www.youtube.com
    Inhalte von externen Seiten werden ohne deine Zustimmung nicht automatisch geladen und angezeigt.
    Durch die Aktivierung der externen Inhalte erklärst du dich damit einverstanden, dass personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu haben wir in unserer Datenschutzerklärung zur Verfügung gestellt.


    Es gibt natürlich auch den anderen Fall. Leute, die in Kindheit oder Erwachsenenalter diagnostiziert wurden, und keinen konstruktiven Umgang damit aufbauen konnten. Deswegen trifft man in den Kreisen auch immer wieder sehr gefrustete Leute. Außer dem Frust, den vielen damit haben, im Gesundheitssystem selber keine kompetenten Ansprechpartner zu finden bzw. nicht an therapeutischen Maßnahmen zu kommen.


    Wie dem auch sei: Es ist ein schmaler Grad. Ich finde aber die Arbeit von Rick Green, die auf gesellschaftliche Aufklärung und Empowerment der Betroffenen zielt, richtig und gut. Ohne die Probleme kleinreden zu wollen.

  • Aufgrund (m)eines anderen Blickwinkels, wohl auch mangels eigener Betroffenheit (wobei, kann man das so ganz für sich ausschließen, ohne sich tiefgründiger mit der Thematik befasst zu haben?), finde ich mehr Hintergründe zu den genannten "Störungen" (ich verwende den Begriff hier mal, auch wenn er eine Abweichung von angeblicher Normalität bedeutet, daher zumindest die Anführungszeichen) aus unterschiedlicher, insbesondere neurowissenschaftlicher Perspektive interessant.


    Dies vor allem auch infolge der in den letzten Jahren aus dem Boden gestampften Schulbegleitungs-"Branche" "für" (tatsächlich oder scheinbar, jedenfalls mit den entsprechenden Diagnosen ausgestattete) betroffene Kinder und Jugendliche. Da hat sich in kurzer Zeit eine Industrie entwickelt, in der sich zur "Unterstützung" schlecht bis gar nicht ausgebildete, oft fachfremde Begleiterinnen und Begleiter tummeln. Neben den zum Teil unerhörten Rahmenbedingungen mit wirren (arbeits)vertraglichen Konstrukten zwischen den Anbietern und den "Professionellen" (die eben fast nie welche sind) macht mir das mit Blick auf die Kinder und Jugendlichen wirklich Bauchschmerzen. Die - selten wirklich konzeptionell erfassten - Gedankengänge dahinter (Inklusion/Integration, Teilhabe, Chancengleichheit usw.) mögen positiv sein, die Umsetzung gleichwohl (eben Fachfremdheit, also mangelndes Wissen, wenig Bewusstsein für die "Problematik" und die Menschen, schnell schnell, das unveränderte Hineinpressen in das Zwangssystem, die damit einhergehende und oft so kommunizierte Zurschaustellung von "Abweichung") erscheint mir wenig zielführend.


    Selbst bin ich - trotz positiver Töne aus der Schule, denen damit eine ohnehin größer werdende allgemeine "Last" in ihrer Arbeit teilweise genommen wird (schon schlimm, von "Last" zu sprechen; ebenso schlimm, dass diese Entwicklung hinsichtlich ihrer Ursächlichkeit weitgehend unreflektiert bleibt) - sehr erschrocken gewesen, seit ich näher hineingeschaut habe (ohne selbst tätig gewesen zu sein - das hätte ich gleichwohl gekonnt, ohne dass es irgendeines Nachweises bedurft hätte, inwieweit ich mit der Thematik, den Betroffenen vertraut bin, welche Erfahrungen ich habe, zudem ohne Führungszeugnis (das ansonsten für jeden Scheiß verlangt wird, hier aber nicht?! das Hamsterrad soll halt laufen und da wird genommen, wer zu bekommen ist); neben dem aus meiner Sicht problematischen arbeitsvertraglichen Konstrukt, das allein mich schon davon abgehalten hätte, hätte ich das nie und nimmer professionell vetreten, dem/der Kind/Jugendlichen und seinen/ihren Bedürfnissen bei aller Offenheit und Empathie mutmaßlich kaum gerecht werden können).


    Mich interessiert deine Sicht auf das Thema Schulbegleitung. Wie diese (oder andere Formen der Unterstützung) sein müsste(n), um wirklich(e) Hilfe(n) zu sein. Vielleicht ergibt sich in 2019 ja mal die Möglichkeit und Zeit für einen Austausch dazu.

  • Auch hier auf die Schnelle zwei Dinge, gerne später mehr:


    - Zu Schulbegleitung habe ich mir nur rudimentär Gedanken gemacht. Momentan bin ich primär mit Erwachsenen-ADHS beschäftigt. Ich habe schon Gedanken dazu, müsste das aber weiter rahmen.


    - Ich könnte mir vorstellen, es wäre hilfreich für die Diskussion, die Dinge erstmal zu trennen. Erstmal müsste man gucken: Welche ADHS-Verständnisse haben wir? Wie müsste man unserer jeweiligen Meinung nach damit umgehen? Die Frage, wie die Gesellschaft damit umgeht, welche Rolle die "Industrie" spielt etc., das sehe ich als andere Fragenkomplexe. Ich verstehe, dass die in der Diskussion oft vermischt werden (typischerweise: ADHS als Erfindung der Pharmaindustrie), halte das jedoch nicht für hilfreich.

  • Mit "Industrie" meine ich hier speziell nur das (für einige sehr lukrative) Geschäft, das mit der Schulbegleitung innerhalb weniger Jahre aus dem Boden gestampft wurde.


    Ich mag mir kein "ADHS-Verständnis" zurechnen, das ich stichhaltung begründen kann, dafür habe ich mich bisher tatsächlich zu wenig mit dem Thema befasst (theoretisch zum Teil, praktisch fast gar nicht). Wenn ich von Blickwinkel spreche, dann also mehr von einem Gefühl bei der Sicht auf das Thema, die (betroffenen) Menschen, speziell Kinder und Jugendlichen heute. Mein Horizont kann hier also stark erweitert werden, offen dazu bin ich jedenfalls. Vor dem Schulbegleitungs-Thema zu klärende Fragen wären dann sicher auch eher eine Sache für ein persönliches Gespräch.

  • Ich habe weder mit Inklusion noch mit Schulbegleitung Erfahrung, aber natürlich trotzdem Gedanken dazu.


    Inklusion ist vom Prinzip her der richtige Ansatz. Das kann ich sogar mit meinem eigenen Beispiel begründen. Wie ich erzählte, hat meine Mutter, als Lehrerin an einer Sonderschule für Verhaltensgestörte, gesehen, dass ich ADHS habe. Sie hat mich aber nicht diagnostizieren lassen. Warum? Weil es mir nichts gebracht hätte (eventuell Medikation, weiß nicht, wie verbreitet die Ende der 70er/Anfang der 80er war, aber das hätte sie defintiv nicht gewollt), und vom Prinzip her wäre ich damals mit einer Diagnose ein Fall für die Sonderschule gewesen. D.h. ich wäre exkludiert worden. So habe ich Abitur gemacht, trotz ADHS, und hinterher ein Studium absolviert. (Wie genau und in welche Probleme ich da gelaufen bin, wäre ein anderes Thema...)


    ADHSler sind durchaus intelligent als auch kreativ, es kann also auch nicht wirklich im gesellschaftlichen Interesse sein, sie auszuschließen. Gleichzeitig haben sie deutlich mehr Problem im Bildungssystem: Alle Arten von Lernstörungen, mehr Schulabbrüche, Legasthenie etc.


    Schulbegleitung: Halte ich ebenfalls vom Prinzip her für sinnvoll. Eines der Hauptprobleme von ADHSlern ist, dass sie sich nicht strukturieren können. Sie brauchen also jemand, der neben ihnen sitzt und die Sachen mit ihnen macht. Dadurch werden sie strukturiert und können es - über längere Zeiträume - auch internalisieren und selber lernen. Eltern sind heute unter soviel Druck, dass sie das oft so nicht leisten können, zumindest nicht, wenn beide arbeiten. (Sei es auch Teilzeit.)


    Aber insbesondere bin ich der Meinung, dass für ADHS spezifische Ansätze wichtig sind. Also Ansätze, die auf einem detaillierten Verständnis von ADHS und dem einzelnen aufbauen und daraus maßgeschneiderte Lösungen entwickeln. Innerhalb davon gibt es wieder einige Spielräume, unterschiedliche Strategien, die möglich sind. Aber Allgemeinplätze ("Das Kind muss Disziplin lernen") halte ich für kontraproduktiv. Schulbegleitung ermöglicht natürlich prinzipiell genau ein individuelles Umgehen damit.


    Die Praxis: Kann ich nicht beurteilen. Und wahrscheinlich wird es grottig und teilweise auch kontraproduktiv umgesetzt. Die Mängel in der Praxis sind vielfältig, da können andere hier mehr zu sagen. Ein Problem, welches hier aber oft nicht gesehen wird, ist, dass es in Deutschland nicht zur Lehrerausbildung gehört, mit unterschiedlichen Lern- und Persönlichkeitsstörungen differenziert umzugehen. Meine amerikanische Freundin hat in Amerika Lehrerin studiert, und da gehörte das Erkennen von und der Umgang mit z.B. ADHS zur Ausbildung. Sie unterrichtet jetzt in Deutschland, schickt Kinder in die Diagnose und ist sehr frustriert davon, dass sie in jedem Fall immer wieder erst Aufklärungsarbeit betreiben muss, vor allem die Eltern mitnehmen muss, die sich oft gegen die Diagnose wehren. Aber ohne Diagnose und Bewußtsein für die Sache kann man den Kindern nicht richtig helfen. Schulung fehlt also nicht nur bei Schulbegleitern, sondern im gesamten System.


    Es gibt eine Schulbegleitungsindustrie? Muss ich mal im Auge behalten, habe ich bislang nicht wirklich mitbekommen. Mein Eindruck war eher, dass das hauptsächlich kleine Klitschen mit ziemlich prekären Arbeitsverhältnissen sind.

  • ADHSler sind durchaus intelligent als auch kreativ, es kann also auch nicht wirklich im gesellschaftlichen Interesse sein, sie auszuschließen.


    Erstmal danke für deine ausführliche Antwort.


    Es kann auch nicht im Interesse der Gesellschaft sein, weniger intelligente und kreative Leute auszuschließen (hast du nicht gesagt, möchte ich hier dennoch hervorheben; begründet auch in allgegenwärtigen Nützlichkeitsabwägungen in den Denk- und Handlungsmustern auch von "Fachkräften", der daraus resultierenden Ablehnung und Herabwertung "unproduktiver" Menschen, Bevorzugung anpassungsfähigerer/gefügigerer Menschen sowie Stigmatisierung und im Ergebnis Exklusion "abweichender"/widerständiger Menschen).


    Wenn ich "Industrie" schreibe, meine ich, dass hier in Windeseile ein wachsender Markt (Schulbegleitung halt) aus dem Boden gestampft worden ist. Damit meine ich keine "Großbetriebe" und noch weniger solche ohne prekäre Arbeitsverhältnisse.
    In diesem Feld tummeln sich nun nicht nur Sozialarbeitende, sondern auch Ergotherapeuten, Krankenpfleger und Handwerkerinnen u.a....schon in der sozialarbeiterischen Ausbildung ist die Thematik kaum präsent (man muss schon gezielt danach suchen und entsprechende Kurse belegen, Praktika auswählen), wie es in den anderen Ausbildungsgängen (so toll die Menschen auch sein mögen) mit dem "detaillierten Verständnis von ADHS und dem einzelnen" aussieht, kann sich glaube ich jede/r hier vorstellen. "Maßgeschneiderte Lösungen" gibt es gewiss nicht - gibt es nie, wenn du mit Menschen arbeitest, sie unterstützen willst - dennoch bedarf es eines theoretischen Verständnisses, praktischer Erfahrungen (d.h. eben nicht, ohne jede Erfahrung nach dreitägigem Crashkurs allein ins Feld geworfen und auf die Kinder losgelassen zu werden) und nicht zuletzt fachkundiger Methoden, die man zur Verfügung hat, um richtig zu unterstützen (welche das letztlich sind, hängt immer vom einzelnen Menschen, der Beziehung zueinander, der spezifischen Unterstützung/"Problematik" ab - von Mensch zu Mensch, "ADHSler" zu "ADHSler" unterscheiden sich demnach die potentiell richtigen/hilfreichen Methoden und damit auch Lösungen; Methodenwissen (zur Verfügung) zu haben, es verinnerlicht zu haben, um es in der Unterstützung auf den und soweit möglich mit der/dem einzelnen Betroffenen abzustimmen, eben ohne Methoden mechanisch und über den Kopf hinweg anzuwenden, ist jedoch zwingende Voraussetzung). Hier herrscht ein extremer Mangel. Hier wären vor allem auch Erfahrungen von reflektierten, kognitiv starken, mit der eigenen Person und "Diagnose" weitgehend im Reinen seienden (Selbst-)Betroffenen - wie dich? - hilfreich. Sowohl in der Ausbildung der "Professionellen" als auch Unterstützung der Kinder/Jugendlichen. Sonst bleibt die ganze Sache am Ende bestenfalls gut gemeint, aber im Ergebnis eben rein oberflächlich, kann jedenfalls von "tiefergehen" und das "Problem an der Ursache packen" - sowohl in individueller als auch struktureller Hinsicht (u.a. dann auch in Schule und in der Ausbildung der Lehrkräfte) - keinerlei Rede sein.


    Nicht über die/den Menschen reden, mit ihnen. Sie nicht behandeln, sondern die "Problematik"/Fragestellung sowohl individuell als auch strukturell fassen, hinterfragen und angehen. Bleibt das aus, haben wir keinen inklusiven Ansatz. Aber genau so sieht "Inklusion" in der Realität oft aus. Nur allzu selten wird gefragt, WER eigentlich WIE in WAS inkludiert werden soll (und was eigentlich mit den anderen und deren Sicht- und Verhaltensweisen ist), und wem damit am Ende wirklich geholfen ist. Mal ab davon, dass mit dem Ende der Schule regelmäßig auch die Inklusion (in Gesellschaft) zuende ist. Sie (wie auch Bildung, Diversity usw.) damit regelmäßig zur bloßen Worthülse verkommt (und auch nur so gebraucht wird), mit der allen Individuen ein selbstbestimmtes Leben in der Gesellschaft versprochen wird, die vemeintlich Inkludierten aber letztlich allesamt auf sich selbst verweist (und wer Inklusion erfahren hat und es am Ende trotzdem nicht packt, dem/der kann man das dann auch schön einfach vorwerfen, der/die hat sich dann trotz aller Hilfe einfach nicht genug angestrengt...dass dazu mehr gehört, dass Inklusion - wenn sie richtig laufen soll - keine einseitige Angelegenheit ist und auch Offenheit und Verändeurng von den "anderen" verlangt, kommt den "Richtenden" folge(fehler)richtig nicht in den Sinn).


    Ein professioneller Blick ist schließlich auch deshalb wichtig, um im Einzelfall auch wirklich entscheiden zu können, ob und welche Hilfe (Schulbegleitung) sinnvoll, zielführend ist. Sicher gilt es hier, auch den diagnostischen Ergebnissen zu vertrauen. Nichtsdestotrotz bin ich überzeugt davon, dass immer noch (oder zunehmend) viele Diagnosen falsch (und vorschnell) gestellt werden (während, wie du ja schonmal betont hast, zugleich sicher auch viele Diagnosen und damit Hilfen, wo sie richtig und notwendig wären, ausbleiben). Insbesondere, wenn ich sehe, wie Eltern, die sicher oft auch unter gehörigem Druck stehen, heute großen Druck auf schon Erzieher, dann Lehrerinnen und sonstige Betreuungskräfte, Kinderärztinnen usw. ausüben, ihren Kindern Probleme zuschreiben, die (sofern sie nicht ohnehin völlig normale kindliche Verhaltensweisen sind) ursächlich in der eigenen Person und Beziehung zum eigenen Kind (Druck auf das Kind, wenig körperliche Nähe, mangelhafte emotionale Bindung etc.) begründet liegen. Die (zudem personell oft unterbesetzten) Fachkräfte sollen immer häufiger elterliche Erziehungs- und gar "Bindungsaufgaben" (in Form der Eltern-Kind-Liebe gar nicht möglich) übernehmen, die auf dem Ausbleiben der elterlichen Verantwortung beruhenden Probleme der Kinder lösen (sprich sie "behandeln"). Die Rückmeldungen vor allem aus den Kindertagesstätten sind teilweise verheerend (und grotesk). Ohne professionellen Blick und entsprechend aufgeklärtes Bewusstsein jedenfalls kann man am Ende den Kindern nicht gerecht und wird im Ergebnis fast immer eher dem Druck nachgegeben und technologisiert ("behandelt") werden. Das schadet letztlich den "falsch" diagnostizierten Kindern, Jugendlichen und später Erwachsenen genauso wie den tatsächlich Betroffenen, sowie untergräbt den Blick (und damit auch Argumente in der Aufklärungsarbeit, vor allem im Austausch mit den Eltern) für die (noch) nicht diagnositizierten, aber ebenfalls betroffenen Kinder und Jugendlichen.


    Besinnliche Feiertage (allerseits).

  • Da zeigst du eine Zukunftsperspektive auf.
    Und mit allem was und wie du schreibst, hört sich das nicht aus der holen Hand an. Ihr solltest euch vielleicht mal treffen.

  • "Technologisierte Behandlung" ist ein schönes Stichwort. Vielen Dank für die sehr detaillierte und illustrative Herleitung.


    Leider Gottes ist das im Moment die Regel. Nicht nur bei der Schulbegleitung. In diese habe ich momentan keine Deinen vergleichbare Einblicke. Ich kann von meinem Hintergrund nur sagen, dass sie für mich von der Idee her prinzipiell Sinn ergibt. Ob sie den Betroffenen - und ich möchte das hier erstmal nur auf die "richtig diagnostizierten" beziehen - schadet? Das wäre natürlich fatal. Selbst dann aber wäre es immer noch ein Versuch, damit umzugehen, und somit - hoffentlich - eine Lernerfahrung.


    So oder so - mit Stigmatisierung hat man mit ADHS mit Diagnose so oder so zu tun. Und zwar, weil es soviel Unverständnis gibt. Ich sehe die Schulbegleitung, selbst wenn sie schlecht läuft, definitiv noch in der geringsten Verantwortung. Als Erwachsener kann man noch versuchen, nicht drüber zu reden, und viele tun das, für mich kommt das nicht in Frage. Letztlich läuft es aus meiner Sicht darauf hinaus: Leugnen und damit auch kein adäquates Verständnis und keinen "Hebel" zu haben oder diagnostizieren, annehmen und dafür Stigma.


    So oder so: Auch mit Diagnose/Behandlung läuft heute noch sehr viel schief, keine Frage. Dass Du mir zutraust, irgendwo in dem ganzen Gemengenlage beizutragen, freut mich sehr, Danke! Und in der Tat denke ich auch in die Richtung, wenn auch bislang noch nicht in Bezug auf das Thema Schulbegleitung!


    Für mustermanns Vorschlag wäre ich natürlich gerne offen!


    Frohes Fest!

    2 Mal editiert, zuletzt von ExilRoter ()

  • Jetzt fühl ich mich echt genötigt, mal was zum Thema Schulbegleitung zu sagen. Ich weiß nicht, woher Du, Jeylords Vadder, Deine Eindrücke hast, aber sie spiegeln in keiner Weise das wider, was ich seit fünfeinhalb Jahren erlebe. Seitdem macht meine Freundin das nämlich. Sie ist examinierte Heilerziehungspflegerin und hat davor bereits mit behinderten Menschen in der Pflege gearbeitet. Weil sie die Vorstellung hatte, bei Kindern noch was bewegen und wirklich nachhaltig helfen zu können, hat sie umgesattelt. Ihre Chefin ist seitdem eine Ergotherapeutin - und dennoch gibt es einen absolut professionellen Vertrag mit ganz klaren, durchsichtigen Bedingungen. Wie jeder andere seriöse Arbeitsvertrag halt auch!
    Es gibt zudem regelmäßig die Möglichkeit zur Weiterbildung, auch auf einzelne Behinderungen oder Krankheitsbilder abgestimmt. Man kann sich bei Bedarf also durchaus spezialisieren. Der Kontakt zur Familie des Kindes ist auch bei Bedarf sehr eng und direkt.
    Und, was mir am wichtigsten zu sagen ist: Es wird in regelmäßigen Abständen ein erweitertes Führungszeugnis von allen Schulbegleitern verlangt. Diese schreiben auch regelmäßige Entwicklungsberichte, es ist alles dokumentiert und zum Wohle des Kindes ausgerichtet!
    Einstellungsvoraussetzung ist übrigens sowohl bei der Chefin meiner Freundin als auch bei großen Betrieben wie Pro School als auch in eigentlich allen Stellenausschreibungen, die im Netz oder in der Zeitung auftauchen, eine abgeschlossene Ausbildung. Quereinstieg von unausgelasteten Muttis war gestern, heute zählt nur was Schriftliches.
    Es mag schwarze Schafe geben, aber eine Branche, wie sie hier dargestellt wird, kenne ich nicht! Viel mehr bringen Schulbegleiter eine Ruhe in die Klasse, wie sie bei der Betreuung nur durch den Lehrer kaum da wäre. Klar ist man vor allem für das eine Kind da, aber die ganze Klassengemeinschaft profitert, wie auch der Lehrer, davon, einen weiteren Ansprechpartner zu haben!

  • Trotz heiligem Abend (und Tablet, "dicker" Finger) ein kurzes Eingehen auf deine Kritik:


    Meine Intention besteht weder in einem Angriff eines ganzen Arbeitsfeldes noch einzelner dort Tätiger.


    Meine Erfahrungen gründen sich in eigenen Erfahrungen, Schulhospitation und Kontakt mit in dem Bereich tätigen Personen (u.a. in einer Reflexionsgruppe). Begegnet bin ich dabei zwei Institutionen, u.a. der von dir genannten Pro School (die Gesellschaftsformen der beiden Institutionen sind mir bis heute nicht ganz klar). Das "Konstruierte" bezieht sich insbesondere auf die aus meiner Sicht intransparente Bezahlung (lasse mir das anhand der mir vorliegenden Unterlagen gerne mal von deiner Freundin erklären), übrigens auch zwischen Kostenträger und Schulbegleitungs-Anbieterin.


    Mitnichten will ich damit alles schlechtreden. Wie auch der ExilRote aufgezeigt hat, sehe ich es auch so: Positiv ist, dass überhaupt eine Unterstützung stattfindet. Ob diese dann wirklich richtig und zielführend ist...siehe meine Kritik oben...habe ich nicht entschieden, vielmehr hinterfragt.
    Das Argument mit der "Ruhe in der Klasse" könnte/müsste ich jetzt lang und breit aufdröseln (warum keine Ruhe? also worin begründet? von wem oder was ausgelöst? auf welche Weise neu erzeugt?). Was ich erlebt habe, ist, dass betroffene Kinder regelmäßig aus der Klasse (aus dem unhinterfragten Regelbetrieb) genommen werden (ein Pauschalurteil soll das aber nicht sein, steht mir auch gar nicht zu; dass hier auch fähige Leute - Schulbegleiter*innen und Lehrende - (zusammen)arbeiten, die zu positiven Veränderungen in der Klasse, im einander Verstehen, im Zusammenwirken aller Beteiligten usw. führen, ist sicher auch der Fall).


    Gar nichts gegen deine Freundin, aber die "Pflege behinderter Menschen" hat aus meiner Sicht nichts mit einer fachlich qualifizierten Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit den hier genannten (diagnostizierten) "Störungsbildern" gemein. Auch dass eine Ausbildung verlangt wird ("unausgelastete Muttis" kam nicht von mir)...sagt erstmal nicht darüber, welche Ausbildung das ist bzw. sein soll. Und sagt weiter auch nichts darüber aus, welche Erfahrungen im Bereich der "Neurodiversität" bestehen. Ich habe theoretische und praktische Erfahrungen u.a. in psychosozialer Hilfe (Ängste, Depressionen, Süchte) sowie stationärer und offener Kinder- und Jugendhilfe bzw. -arbeit, sehe mich deswegen aber nicht als qualifiziert (genug) für eine professionelle Begleitung im hier besprochenen Bereich an. Aber womöglich habe ich auch eine andere Sicht auf Begleitung und Inklusion als die Verantwortlichen bei Pro School & Co. sowie in den Schulen und bei den Kostenträgern (welche das ist, sollte aus meinem letzten Beitrag hervorgegangen sein).


    (Von mir erfahrene negative) Tatsachen sind weiterhin der (alleinige) Einsatz als voll(wertig)e (und nicht fachlich angeleitete) Arbeitskraft von u.a. Ausbildungs-/Fachfremden (die deswegen nicht "schlechter" sein müssen; eben auch Handwerkern, mit denen ich btw. gerne zusammenarbeite) und Anerkennungspraktikantinnen, das nicht verlangte Führungszeugnis, die im Vorfeld nicht geklärte Fachexpertise (Qualifikation) im Hinblick auf die Diagnosen und den notwendigen Unterstützungsbedarf sowie mangelhafte (nicht vorhandene?) Konzeptionen bei den Trägern.


    Einen Austausch mit im Feld tätigen Personen wie deiner Freundin würde ich immer interessant finden, bspw. im Hinblick auf die Weiterbildungsmöglichkeiten, deren Anbieter und Inhalte.



    Auf den ExilRoten gehe ich nach den Feiertagen noch näher ein. Bis dahin allseits ein frohes Fest.

  • Ich komme nun auch endlich nochmal zum Antworten.


    Was genau meinst Du mit "intransparenter Bezahlung"? Meine Freundin hat einen Festvertrag mit unabhängig von Schule und Kind gleichbleibendenem Stundenlohn (abgesehen von einer Gehaltserhöhung, welche sie schon bekommen hat). Gerechnet wird immer mit der tatsächlichen Stundenzahl unter Abzug eines Polsters für die Ferien. Heißt, wenn sie beispielsweise 30 Stunden pro Woche arbeitet, werden nur 27 gezahlt, damit 3 pro Woche "gespart" werden können (Zahlen sind nur beispielhaft). Damit ist gewährleistet, dass auch während der Ferien das gleiche Gehalt gezahlt wird.
    Pro School handhabt das glaube ich gleich, während die GIS (zumindest vor 5 Jahren noch) nur die tatsächliche Zeit bezahlt hat. Das war dann natürlich erstmal mehr, dafür mussten die Mitarbeiter in den Ferien sehen, wie sie die Lücke ausgleichen. Sie konnten dann beispielsweise Ferienfreizeiten begleiten oder in die Betreuung wechseln.


    An der Schule, an der meine Freundin die ersten viereinhalb Jahre tätig war, wurden keine Kinder aus der Klasse genommen. Sie haben das ganz normale Pensum mitgemacht, nur eben mit Hilfe. In der aktuellen Schule gibt es tatsächlich teilweise Absonderungen in einen extra-Raum, dies aber eher zur weiteren individuelleren Förderung. Während es an der "ersten Schule" aber auch nur das eine Kind mit Behinderung war, ist es nun eine ganze Inklusionsklasse. Ruhe entsteht unter anderem dadurch, dass mehrere Ansprechpartner vorhanden sind. Es ist also nicht so, dass der Lehrer einem Kind etwas erklärt und die anderen mit Fragen oder Problemen sich währenddessen langweilen und eher mal laut werden, es sind immer gleich alle/viele auf einmal versorgt.


    Ich hab mich bei all dem übrigens auf Schulbegleitung allgemein bezogen und nicht speziell auf die Krankheitsbilder, um die es hier eigentlich geht. Die Kinder meiner Freundin hatten bisher einmal Narkolepsie und zweimal geistige Entwicklungsstörungen. Da kommt man also als examinierte Fachkraft mit langjähriger Erfahrung sehr gut weiter. Für speziellere Fälle gibts wie gesagt diverse Weiterbildungsangebote. Da meine Freundin die bisher nicht in Anspruch nehmen musste, kann ich dazu nichts Näheres sagen, außer, dass sie eben vorhanden sind. Ich kenne es allgemein so, dass zu Beginn eines neuen Schuljahres die Kinder mit Betreuung vorgestellt und dann so verteilt werden, dass die Leute mit entsprechenden Kenntnissen die passenden "Klienten" bekommen. Die werden dann mindestens bis zum nächsten Schulwechsel begleitet (es sei denn, es passt von einer Seite aus menschlich nicht). Und das - wie gesagt - auch immer mit aktuellem Führungszeugnis.

  • Zum Thema Schulbegleitung:


    Mein Sohn (ADHS und FAS) geht mittlerweile in die 6. Klasse eine Gesamtschule und hat seit dem ersten Schuljahr eine Schulbegleitung. In der Grundschule hat das einwandfrei funktioniert, da die Schulbegleitung gelernte Kinderkrankenschwester war, und der Austausch untereinander einwandfrei geklappt hat.
    Mittlerweile, seit 1,5 Jahren in der Regelschule, hat er die 6.! Schulbegleitung, da diese immer wieder wechseln oder krank werden. Dieses bringt eine extreme Unruhe in die Klasse, da sich die anderen Kinder ja auch immer wieder auf neue Kräfte einstellen müssen, geschweige denn von meinem Sohn. Die Firma die diese Begleitungen stellt kann auch keinen kurzfristigen Ersatz stellen, was bedeutet dass an diesen Tagen die einzige Sonderpädägogin der Schule für meinen Sohn zuständig ist. Oftmals ist es allerdings so, das ich angerufen werde um meinen Sohn abzuholen, da keine Betreuung gewährleistet ist, oder er gleich ganz zuhause bleiben muss.
    Anrufe bei dem Träger der diese Begleitungen stellt ergaben, das die Kräfte immer kurzfristig abspringen, und sie keinen Ersatz haben. Sie zahlen Mindestlohn, und wenn jemand Interesse hat wird er noch am selben Tag eingestellt, und steht am nächsten Tag in der Klasse ohne weitere Informationen.
    Die Qualifikationen der letzten Schulbegleiter waren: Schneiderin, ungelernt, Studentin.
    Sicherlich geht es auch anders, aber die Konsequenz der Situation ist, das mein Sohn zum Halbjahr auf ein Internat wechselt, wo die Betreuung gewährleistet ist.

  • Wieder nur kurz, mit Dank für die Rückmeldungen:


    Die Beispiele zeigen, dass das (Neben)Thema nicht einfach so oder so ist (wie so oft halt nicht nur schwarz oder weiß), eingebettet in eben individuellen und strukturellen Bedingungen (hier sind die Entwicklungen bei den Einzelnen, in den Familien, Schulklassen usw. dann auch in ihren Ursachen zu hinterfragen), Unterschieden etc. (bei allen Beteiligten), in vielen Belangen komplex halt (umso wichtiger sind u.a. jene Bedingungen und Unterschiede aufgreifende Konzeptionen, die gemeinsam erarbeitet und umgesetzt werden (können), mit denen sich die Beteiligten identifizieren können, die auch bei der (bzw. zur Begründung der) Auswahl und Bezahlung der Schulbegleiter herangezogen werden können).
    Die große Fluktuation (sowohl in der Zuordnung zu den Kindern/Jugendlichen und mehr noch unter den Schulbegleiterinnen überhaupt) habe ich auch so wahrgenommen; und sehe ich besonders kritisch, da eine professionelle Unterstützung ohne persönliche Beziehung, ohne Bindung und Vertrauen nicht möglich ist (weil eben nicht (nur) "behandelt" wird), daher vor allem auch Zeit und Beständigkeit verlangt.



    Nun wollte ich die Schulbegleitung hier nicht thematisch in den Vordergrund rücken, sondern im Zusammenhang mit den im Threadtitel genannten Diagnosen betrachten, dem Unterstützungsbedarf, der Realität und den Möglichkeiten dazu (und da mein hauptsächlicher praktischer Bezugspunkt zu jenen Diagnosen bis jetzt die Schulbegleitung gewesen ist, habe ich diese in den Raum geworfen). Beim Thema Schulbegleitung kommen dann, wie man anhand der Rückmeldungen ja auch sieht, vom eigentlichen Thema abschweifende "Störungen" und "Krankheitsbilder" hinzu (die dann vielleicht etwas für ein eigenes Thema wären bzw. Schulbegleitung zu einem eigenen machen). Wenn es um Asperger, ADHS usw. geht, tue ich mich schon schwer, generalisierend von Störungen oder gar Krankheiten zu sprechen (weil jene immer eine Abweichung von einer regelmäßig unreflektierten "Normalität" beschreiben), finde daher den Begriff der Neurodiversität auch interessant. Und (u.a. eine Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit schon deshalb) wichtig, um am Ende nicht nur einzelne Betroffene in den Blick zu nehmen (zu "behandeln", zu "normalisieren"), sondern die Gemeinschaft (alle), den Umgang miteinander (das Verstehen der Unterschiede und Gemeinsamkeiten); sowie nicht zuletzt sich selbst - bspw. (in der Verantwortung) als Ausbilderin, Schulbegleiter, Lehrerin, Mitschüler, Individuum in der Gemeinschaft - um (eigene) Vorurteile und stigmatisierende Denk- und Handlungsweisen zu hinterfragen, statt sie zu verfestigen.



    Bevor ich mich mit dem Thema Unterstützung (wie Schulbegleitung, aber auch von Erwachsenen) von Menschen mit Asperger, ADHS und anderem Nicht-Neurotypischen (bzw. einem guten Zusammenleben und -wirken) eingehender beschäftigen kann (so die für mich nun noch klarere Erkenntnis und zugleich Erklärung für meine "Bauchschmerzen" hins. Schulbegleitung bis zu diesem Punkt), muss ich mich zuerst tiefgründiger mit dem Thema Neurodiversität und der damit einhergehenden Verschiedenheit der Menschen befassen sowie zwingend mit den Betroffenen austauschen. Dass diese Voraussetzunen im Feld der Schulbgeleitung bisher unzureichend bis gar nicht erfüllt sind, hat mich diesbezüglich wohl am meisten erschrocken; obgleich eine offene Herangehensweise und vertrauensvolle Beziehung zwischen einzelnen Schulbegleiter*innen und Schüler*innen sich sicherlich fast immer positiv auswirken wird (individuell wie auch auf die Klasse, wovon ja auch Delantero berichtet hat und was ich - wie oben erwähnt - auch selbst schon aus Gesprächen wahrgenommen habe). Nur sollte es aus fachlicher und wirklich inklusiver Perspektive (sowohl individuell als auch strukturell) allein damit nicht getan sein. Das Ding ist hier aber auch, dass ich vielleicht zu weit (und groß) denke. Und dass bei aller Kritik ein Anfang grundsätzlich die Möglichkeit eröffnet, weiter zu denken, es besser zu machen.
    Ein weiterer offener Austausch (über Youtube-Videos hinaus; ich gebe zu, dass ich mich schwer mit dieser "Lehrmethode" tue), hier und persönlich, würde meinen Blick auf jeden Fall weiter schärfen.
    In 2019 also gerne weiter und mehr.



    Allen einen schönen Jahresausklang.


  • Mittlerweile, seit 1,5 Jahren in der Regelschule, hat er die 6.! Schulbegleitung, da diese immer wieder wechseln oder krank werden. Dieses bringt eine extreme Unruhe in die Klasse, da sich die anderen Kinder ja auch immer wieder auf neue Kräfte einstellen müssen, geschweige denn von meinem Sohn. Die Firma die diese Begleitungen stellt kann auch keinen kurzfristigen Ersatz stellen, was bedeutet dass an diesen Tagen die einzige Sonderpädägogin der Schule für meinen Sohn zuständig ist. Oftmals ist es allerdings so, das ich angerufen werde um meinen Sohn abzuholen, da keine Betreuung gewährleistet ist, oder er gleich ganz zuhause bleiben muss.
    Anrufe bei dem Träger der diese Begleitungen stellt ergaben, das die Kräfte immer kurzfristig abspringen, und sie keinen Ersatz haben. Sie zahlen Mindestlohn, und wenn jemand Interesse hat wird er noch am selben Tag eingestellt, und steht am nächsten Tag in der Klasse ohne weitere Informationen.
    Die Qualifikationen der letzten Schulbegleiter waren: Schneiderin, ungelernt, Studentin.
    Sicherlich geht es auch anders, aber die Konsequenz der Situation ist, das mein Sohn zum Halbjahr auf ein Internat wechselt, wo die Betreuung gewährleistet ist.


    Das finde ich wirklich krass. Habe nicht gedacht, dass sowas heute noch möglich ist, da meine Freundin wie gesagt das Gegenteil erlebt, auch im Austausch mit anderen Schulbegleitern. Ich bin davon ausgegangen, dass ungelernte Kräfte vor allem zu Beginn eingesetzt wurden, als die Branche, bzw. das Betätigungsfeld noch ganz neu war. Ich weiß, dass beispielsweise Pro School jeden ohne pädagogische oder sozial geprägte Ausbildung direkt ablehnt. Habt ihr mal dran gedacht, den "Anbieter" zu wechseln?

  • Den Anbieter wollte ich wechseln, es gibt hier allerdings scheinbar nur noch einen anderen. Die Finanzierung läuft über das Jugendamt, nur ist die dafür zuständige Person selbst ständig krank, und die Vertretung fühlt sich scheinbar nicht zuständig. Ich musste alles mit dem Anbieter selbst klären, und hätte jetzt auch den anderen bekommen können.
    Das Ende vom Lied ist, das die Schule klipp und klar gesagt hat, das es so nicht mehr geht, und hat uns einen Schulwechsel zum Halbjahr nahegelegt. In den letzten 2 Monaten konnte er über 10 Prozent aufgrund des Fehlens eines Schulbegleiters die Schule nicht mehr besuchen oder musste eher abgeholt werden.
    Darum jetzt das Internat, je nachdem wie hoch mein Eigenanteil ist, ansonsten halt ne andere Schule.

  • Gut, dann lege ich es eben drauf an. Mit meiner Fußballsucht ist es eh nicht mehr weit her und Bindungen zu Fans oder in Fanszenen hinein habe ich selbst in meiner härtesten Zeit keine aufgebaut, obwohl ich das vielleicht mal wollte; sicherlich eilt mir im Fanmag ein Ruf voraus, aber kennen tut mich da so gut wie niemand, persönlich, naja, ich selbst so halbwegs, bei allen positiven wie negativen Überraschungen ;) . Das Risiko ist nicht null, aber überschaubar. Bei zu heftigen Attacken wird sicher ein Admin Verständnis haben und mich schlimmstenfalls auch löschen; wenn's sein muss, mit meiner ganzen Historie. Empfindlich bin ich eigentlich nur gegen Häme und Spott von der Seite. Aber jetzt hat ExilRoter den Anfang gemacht, dieses heiße Eisen aus der Tabuzone zu holen, und ein wenig ist es mir auch ein demokratisches Bedürfnis oder aber ich verspüre sogar die Pflicht, mich als Betroffener in die Diskussion einzuschalten. Wenn das nicht mehr sein darf, was dann. Ist vielleicht auch eine Nagelprobe, wie viel mir dieses Forum noch wert ist.


    Ich habe mit drei Jahren aufgrund eines bloßen Mutterfragebogens den Befund Asperger aufgedrückt bekommen und mein Leben lang an den Folgen zu knabbern gehabt; meine Eltern haben mich da in einer Rolle gefangen gehalten, die ich nicht nur nicht war, sondern die so ziemlich ihresgleichen sucht. Eine Hochbegabung dichteten sie mir meine obendrauf an, und das auch fernsehwirksam, wobei hier der Vater vorneweg ging. Sozial und alltagspraktisch pflegten sie die Defizite nur so; alltagspraktisch wirkte dabei wiederum auf sozial zurück - sorry, deutlicher bringe ich an dieser Stelle nicht über mich es auszudrücken. Ja, ich war in einigen Bereichen ängstlich, in anderen ungeschickt und in wieder anderen alles beides. Auf der anderen Seite war ich sicher auch überdurchschnittlich intelligent, wovon manches sogar erhalten geblieben sein mag. Hab mich später auch mal selbst getestet. Aber konstruiert haben sie sich daraus einen Professor, der sich selber nicht... Der für das alles ne Mama, nen Therapeuten oder einen Einzelfallhelfer braucht. Und meine Mutter hatte die Autorität eines Psychologiestudiums hinter sich. Sie hatte aber massiv selber Probleme wie Verantwortung für alkoholkranke Mutter in ihrer Jugend und damals nicht erkannte Epilepsie, die sie z.T. auf mich übertrug.
    So mit 14, 15 ging mir auf, was ich alltagspraktisch alles, teils mit Leichtigkeit, konnte (alleine rausgehen, mich anziehen, Brote schmieren, ...), nur sozial war da der Zug schon ziemlich weit davongeeilt. Zumal ich - auch auf elterliche Initiative - mittlerweile auf einem gehobenen Gymnasium gelandet war, wo die alle ihre Codes haben und schon ihr Erfahrungsrepertoire und grobschlächtig auftreten mal nicht so einfach drin ist, außer besoffen, wovor mich meine Altvorderen, das zur Abwechslung mal löblicherweise, ja auch bewahrt haben.
    Dann erkrankte ich auch noch körperlich, ich denke heute, eine Kiefer-Dysfunktion im Zusammenspiel mit langwierigen Infektnachwirkungen, was Verspannungen und z.T. kleinere Zuckungen am ganzen Körper zur Folge hatte - damals, wiederum auf Veranlassung meiner Mutter, als Tourette diagnostiziert. Das wird nur allzu häufig mit dem "Asperger" in einen Topf geworfen. Die Muskelverkrampfungen bin ich nie richtig los geworden, was mein Ausdrucksverhalten immens beeinträchtigt und gemeinhin gerne mal auf den Asperger geschoben wird. Nach einer Art epileptischem Anfall im Zuge massiver Halswirbelsäulenprobleme 2012 sind zumindest aber die Zuckungen weitgehend weggegangen.


    Mein Abi habe ich mit einiger Anstrengung bestanden; Studium der Sozialwissenschaften ist letztenendes an einem Mischmasch aus defizitorientierter Motivation, durchwachsener Gesundheit, viel zu spätem Auszug nach epischem Krach mit meinem Vater und Geldknappheit gescheitert.


    Seit 2011 wohne ich endlich alleine; momentan habe ich einen Job, was eine große Schwierigkeit für mich darstellt. Diese Arbeitstelle ist aber auch nicht meine erste. Sowohl mit Jobs als auch Jobvermittlern verbinde ich indes traumatisierende Erlebnisse; so habe ich mich nicht gesträubt, auch einmal auf dem Bau zu malochen, aber es bitter bereut.
    Mit meinen Eltern verstehe ich mich merkwürdigerweise ganz OK, wobei mir mein Vater satte zehn Jahre ein rotes Tuch war. Freizeitmäßig betätige ich mich in diversen künstlerischen und ökologischen Gruppen, die alle aber zum Glück verhältnismäßig wenig mit Fußball zu tun haben. Ansonsten werkele ich weiter an meinen Datenbanken, unter anderem einem semi-automatisch sich erweiternden beliebigsprachigen Synonymwörterbuch mit Synonym-Vokabeltrainer und einem kombinierten Organizer/Cross-Impact-Analyzer, womit ich aber kein Geld verdiene.


    Meine Fußballbegeisterung war und ist ein Vehikel für Sehnsüchte und Ängste wie bei anderen Fans auch, wo ja nichts gegen zu sagen ist. Die Überreiztheit, mit der ich das im Forum für alle sichtbar ausgelebt habe, war aber toxisch. Es hat durchaus auch ein, von manchen vereinzelt sogar erkanntes, positives Interesse an schönem Spiel, taktischen Zusammenhängen etc. gegeben, Das hat aber keinen Nährboden gefunden in dieser Unausgeglichenheit; ich bin weder auf hinreichend Anerkennung gestoßen noch habe ich es schon gar in Aktivität umwandeln können. Ich bin ja auch selber relativ unsportlich. Fußball und alles, was damit zu tun hat, hat mich zu sehr frustriert, deswegen erst einmal der Abstand.

    Einmal editiert, zuletzt von Halfarsen ()

  • Alltäglich sichtbare Schwächen liegen jetzt vor allem noch in der Verkrampfung, fehlendem gemeinsamem Erleben (ich habe halt relativ spät damit angefangen), limiertem Smalltalk / Scherzkommunikation und einer leichten Überforderung mit manchen reizintensiven und Multitaskingsituationen. Das kommt aber auch alles mit daher, dass ich als Jugendlicher so gut wie gar keine Peer-Group hatte und, wo doch Ansätze vorhanden waren, von den Lebenswelten nicht mal ein Zehntel des Normalen geteilt habe, das nie ausreichte, um mitzureden. Internet, das jetzt eine große Hilfe dabei ist, bekamen wir auch erst 1996...


    Offizielle Therapien habe ich nach dem Abbruch der letzten, elterlich gesteuerten, wo ich den Drang verspürte, raus zu müssen, sporadisch mal angetestet . Ansonsten ist mein Leben eine Therapie. In Selbsthilfegruppen bin ich nur mehr reduziert, weil mir da zu viele Syndromlinge und Expertengläubige rumlaufen. Aspergergruppen meide ich schon gleich ganz; es tut mir in der Seele weh, wie bereitwillig die überwältigende Mehrheit der Asperger-Diagnostizierten ihre persönliche wie auch kulturelle Identität über den Asperger definieren statt über sich selber und viele von ihnen überdies dieses Denken hoch halten und verbreiten. Immer "Ich bin als Asperger" oder gar "Asperger sind", nicht "ich bin". Oder "Autistic Pride" statt "Ich bin stolz auf mich selbst". Auf Pharmazeutika habe ich bis auf Cola, nach dem Reinfall mit der "Tourette"-Medikation, ganz verzichtet ;) . Dagegen recherchiere und lese ich viel eigenständig Fachtexte jeglicher Disizplinen über informelle Interaktion, die überwiegend autismusfremd sind, und bilde mir unter anderem mit deren Hilfe Strategien im täglichen Leben. Der Zug ist da sicher noch nicht abgefahren.


    Zu Asperger: Die Frage stellt sich mir nicht, ob ich es habe. Ich behaupte, Asperger gibt es nicht, weil eine schlagende Gemeinsamkeit der Einzelfälle fehlt, die über ein sehr vages subjektives Beobachten und Deuten hinausgeht, wo wieder die (Ohnmacht-Kompensations-)Macht von Eltern und Institutionen im Spiel ist, die, wie schon gesagt, von sich ablenken wollen. Man hat nicht DEN Genort, DIE Gehirnregion, DIE Stoffwechselprozesse, was mir bei ADS schon etwas klarer scheint. Die Fälle jedoch wiederum gibt es meiner Meinung nach. Nur ist sehr wenig verstanden, was individuell oder fallgruppenmäßig jeweils dahinter steckt. Äußere Faktoren werden in überzogener Gegenreaktion auf frühere "Kühlschrankmutter"-(sic, auch noch Mutter)Diffamiererei sehr ausgeblendet. Wer das Herz auf dem rechten Fleck hat, sollte da aber immer auf das Gesamtbild schauen und ohne Anklage auch den Beitrag des Umfeldes sehen.
    Und ja, Asperger ist meines Erachtens eine Modekrankheit.


    Dass dem ein oder anderen durchaus mit (oder dank...) der Diagnose Asperger geholfen wird, das will ich auch nicht klein reden. Meiner Meinung nach hat da aber immer die persönliche Beziehung zwischen dem Diagnostizierten und dem/den entsprechenden Betreuern einen großen Anteil. Ich freilich habe mich durch den Asperger noch nie besser verstanden gefühlt, OK, es war eine Konstante in meinem Leben, die es mir zeitweise bequem gemacht, mich aber letzlich auch erdrückt hat. Ansonsten kamen da immer da so Computerhirn-Vorurteile, übertriebene Vorstellungen von meiner Wahrnehmungs- oder Veränderungsempfindlichkeit, Vernachlässigung meiner Gefühle, Unterschätzung meines Kontaktbedürfnisses, Vermischung mit meinen daneben bestehenden körperlichen Symptomen, unnatürliche Vorsicht rein schon durch das Krankheitsetikett...


    Ich möchte deswegen hiermit deutlich sensibilisieren für den Missbrauch von Krankheitskategorien. Da warne ich eindringlich vor Konzepten wie Autismusspektrum oder Neurodiversität, nicht wegen der Krank-Gesund-Dichotomie, die mir viel zu aufgebauscht wird, sondern wegen der Verharmlosung von Schubladisierung, von Persönlichkeitskonzepten, auch von Konzepten, wie jemand wahrnimmt, durch so eine Es-geht-ja-alles-ineinander-über- und Jeder-hat-doch-ein-bisschen-was-davon-Weichspülpackung. Konkret z.B.: Jeder hat doch ein bisschen von einem Computerhirn, das alles durch das XY-System wahrnimmt und dessen mimische Verkrampfung ja auch Teil des Autismus ist... Das ähnelt in seiner Denkstruktur esoterischen Theorien, die auch extrem verschwurbelt und sich gerade dadurch schwer angreifbar machen und ebenso ein diffuses ur-menschliches Bedürfnis von Zusammengehörigkeit der Welt adressieren. Ich bin mir sicher, dass diese Problematik auch schon Leute erkannt haben, gerade viel lesen tue ich aber nicht davon.
    Mir liegt es am Herzen, dass der Einzelne - ich natürlich auch ;) - in seiner Besonderheit als solcher gewürdigt und nicht einfach als Teil einer Spektrumssauce oder als insgeheimer Schubladling in einer, ja ach so guten, Neurodiversität, verhackstückt.


    Was Fachkompetenz von Betreuern angeht, so habe ich diese vielfach als Vorurteilskompetenz empfunden. Man muss dabei ja auch noch wissen, dass meine Mutter diverse Therapeuten in ihren ehelichen Konflikten instrumentalisiert hat und die das vielfach auch noch haben mit sich machen lassen. Überdies ist viel an Ängsten (Hunde...) rumkonditioniert worden, wo es vor allem darauf ankam, dass sie vor Dritten das Gesicht wahrt und sich nicht mit dem ängstlichen Kind blamiert (geprägt durch Dorfsozialisation, die sie in einer Großstadt mitschleppt...).
    Vor einem Therapeuten, der mich mit fünf für nicht schul- und gruppenfähig befand, hat sie mich indes auch gerettet, das sei ihr zugute gehalten.
    Wichtig ist mithin, dass Betreuung nicht zu Ungusten der Selbstentfaltung geht und nicht zum verlängerten Arm von Erziehungsberechtigten wird. Dafür kann, wiederum, keine Ausbildung garantieren.


    Ich könnte noch so viel mehr anfügen. Ist auch manches etwas durcheinander.


    So, der Oberirre hat sich geoutet. Ich hatte das Gefühl, ich musste in den sauren Apfel beißen. Für meine Nachfolger wird es nun hoffentlich leichter.
    Darauf jetzt erst mal ne Cola :)....

    2 Mal editiert, zuletzt von Halfarsen ()