Längere Antwort, weil m.M.n. kompliziertes Problem.
Nun, Unrecht ist immer vom gesellschaftlichen, zeitlichen und kulturellen Standpunkt des Betrachters abhängig. Jede Gesellschaft hat ihre eigenen moralischen Normen. Umgekehrt mögen die Menschen in der islamischen Welt einige unserer Auffassungen als Unrecht empfinden. Der Punkt ist, dass man gewisse Unterschiede tolerieren muss.
Ein Beispiel: So hart es klingt, aber Strafen wie die Todesstrafe sind in der islamischen Welt gesellschaftlich anerkannt und werden dort nur sehr selten in Frage gestellt. In unserer Gesellschaft hält eine deutliche Mehrheit der Menschen diese Form der Bestrafung dagegen für Unrecht, ich übrigens auch. Bei uns ist das Essen von Schweinefleisch (außer bei manchen militanten Veggies) kein Thema, dort ist es Unrecht. Es wird immer schwer, wenn man versucht, die eigenen Maßstäbe auf andere Kulturen zu übertragen. Vieles, was uns als Leid oder Unrecht vorkommt, wird dort gar nicht so empfunden. Was nicht heißt, dass es keine Übereinstimmungen zwischen beiden Systemen gibt, Mord z.B. ist in beiden verboten. Ebenso werden hier wie dort gesellschaftliche Maßstäbe missachtet. Weder Bibel noch Koran erlauben z.B. Korruption!
Vieles braucht außerdem seine Zeit. Noch vor wenigen Jahrzehnten war Ehebruch bei uns ein großes Unrecht, das soziale Ächtung nach sich zog, heute ist er es nicht mehr unbedingt. Im Gegenteil wird (sicher nicht selten zu Recht) immer öfter Verständnis für Ehebrecher aufgebracht. Mit der Todesstrafe ist es das gleiche Spiel.
Aus genau diesem Grund kann man der islamischen Welt unseren Wertekatalog nicht aufzwängen: Sie müssen selber herausfinden, was das Beste für sie ist, und das braucht halt seine Zeit. Möglicherweise kommen sie (ebenso wie die USA) irgendwann selber zu dem Schluss, dass Todesstrafe falsch ist. Und wir können ja bei unseren Normen auch nicht immer sagen, das Nonplusultra gefunden zu haben. Darüber könnte höchstens eine übergeordnete und unabhängige Instanz (Gott) urteilen. Nichtsdestotrotz gibt es viele Schnittmengen in der Moral, bei denen wir auf Einhaltung bestehen können, wenn wir selbst auf die Einhaltung achten. Geduld und bessere gegenseitige Information über die Denkweise der anderen Seite ist dabei gefragt, übrigens auch seitens der islamischen Welt, die oft nur ein unzureichendes oder tendenziöses Bild vom "Westen" hat!
Möglicherweise könnte solche eine Sichtweise, gekoppelt mit anderen politischen Schritten, langfristig dazu beitragen, dass Anschläge wie die in London seltener werden und irgendwann aufhören. Ich halte es jedenfalls für eine Option.
PS. Für mich bleibt es trotz aller Toleranz Unrecht, Ehebrecherinnen zu steinigen, und das würde ich auch gegenüber einem Moslem so vertreten, der dies befürwortet (das tun ja längst nicht alle Moslems!). Das "wie" ist entscheidend, wenn ich etwas an seiner Denkweise ändern will.