Oliver Bierhoff macht sich keine Sorgen um Joachim Löw. Der Bundestrainer habe nach jedem Turnier "etwas zum Weiterentwickeln gefunden", sagte Bierhoff in einem Interview mit der SZ. Trotz der teils heftigen Kritik nach der Halbfinal-Niederlage gegen Italien geht Bierhoff davon aus, dass Löw nach seinem Urlaub die Arbeit in Richtung WM 2014 mit neuem Ansporn wieder aufnehmen wird. "Jogi Löw wird das Spiel gegen Italien für sich analysieren, und er wird bald wieder die Kraft finden für die nächste Strecke. Um Jogi mach' ich mir keine Sorgen", betonte Bierhoff. "Wenn man als Trainer sechs Wochen lang Entscheidungen trifft, die von 80 Millionen Menschen diskutiert werden, und wenn die Sache dann so endet, dann ist es normal, dass man erst mal keine Energie mehr hat. Im ersten Moment fragst du dich: Was jetzt? Was willst du jetzt überhaupt noch machen, was willst du den Spielern erzählen?", sagte Bierhoff.
Ich habe mir in den letzten Tagen auch so meine Gedanken gemacht. "Weiche" Formulierungen zu den Vorgängen bei der EM, wie sie verständlicherweise von Oliver Bierhoff im SZ-Interview ausgeführt wurden, fallen mir dazu nicht mehr ein. Verstärker für mich, neben den Beobachtungen und Gesprächen vor Ort in Polen: Seitdem Jogi Löw als Cheftrainer der Nationalmannschaft verantwortlich ist, geriet das Team in 9 Pflichtspielen in Rückstand. Nur eines dieser Spiele konnte die Mannschaft gewinnen, und zwar das EM-Halbfinalspiel 2008 gegen die Türkei (3:2).
Diese Faktenlage macht nachdenklich. Der selbsternannte "Wettkampftrainer" hat folgenschwere Fehler begangen. Schon vor der EM. Spanien wäre jetzt fällig, von Italien war überhaupt keine Rede. Der Trainer, der offensichtlich weniger ein Coach als ein Trainer ist, wurde entzaubert. Sein Image als Magier ist er los, auch das eines Strategen mit Kreativität. Die überstrapazierte Nibelungentreue zu Podolski ist ebenso zu hinterfragen wie das Festhalten an den verletzten und folglich auch sehr formschwachen Bastian Schweinsteiger. Neben der Formschwäche, die seine eigene Leistung in den Keller sausen ließ, konnte er zudem in keiner Form als Teamführer auf dem Rasen eine positive Wirkung erzielen. Nicht viel besser kommt auch Kapitän Lahm weg. Ohnehin kein richtig guter und allseits anerkannter Kaptitän, lief auch er seiner Form hinterher. Die Mannschaft wirkte auf dem Rasen ohne Führung und ließ weitestgehend die Flügel hängen.
Statt jetzt für Ruhe zu sorgen, setzte Löw im Spiel gegen Italien noch einen drauf. War es Hochmut oder Selbstüberschätzung, die ihn veranlasst haben, die gegen Griechenland gefundene Aufstellung in so wesentlichen Teilen zu verändern? Ausgerechnet auch noch gegen die ausgebufften und taktisch starken Italiener. Mit denen muss man bekanntlich immer rechnen, auch in weniger guten Phasen.
Mag Löw mit seiner eigenwilligen Aufstellung viel zerstört haben, darf man aber auch die Spieler hinterfragen. Ich habe in Polen vor den Spielen, in den Spielen und nach den Spielen eine Körpersprache erlebt, die nicht nur schlecht war, vielmehr teilweise unter aller Kanone. Wenn das als Ideal gepredigte vereinte Pressing oder Stören im vordersten Drittel schon eine Rarität war, so hätte wenigstens die Rollenver- und Raumaufteilung bei eigenen Standards funktionieren müssen. Podolski bemühte sich bei der Defensivarbeit, Özil und Gomez wollten davon überhaupt nichts wissen. Dazu kamen noch abweisende Handbewegungen von Özil, wenn bei ihm selbst oder bei einem Mitspieler was nicht geklappt hatte.
In solchen Situationen ist Führung auf dem Rasen gefragt und nicht nur an der Seitenlinie. Allein Khedira und Neuer konnten über ihre Körpersprache Aggressivität und Entschlossenheit vermitteln. Schön spielen ist schön, aber wenn es auf diesem Niveau um alles geht, geben Persönlichkeit, souveräner Umgang mit Rückschlägen und Siegermentalität den Ausschlag.
Defizite gehören aufgearbeitet. Mit Jogi Löw als Bundestrainer. Aber auch mit einem Mann neben Löw, der die frühere Klinsmann-Rolle übernehmen könnte. Löw ist (nur) Trainer, weniger ein Coach. Ob Bierhoff diese Rolle übernehmen kann, entzieht sich meiner Kenntnis. Überzeugt bin ich davon, dass die Machtfülle unseres Trainers da beschnitten werden muss, wo es ihm an Kompetenz fehlt. Er scheint bei Machtteilungen Schwierigkeiten zu haben, wie man an der Zusammenarbeit mit Sammer ablesen konnte. Der Trainer Löw sollte zukünftig auch dafür Sorge tragen, eine funktionierende Hierarchie auf dem Platz zu haben. Spieler, die kurz vorher ein CL-Finale auf eigenem Gelände vergeigt haben, taugen da nicht viel. Wenn einer davon sogar verletzt ist, schon mal eh nicht. Kürzlich hat in einem anderen Faden jemand den Namen Kehl genannt, den man in Polen gut hätte gebrauchen können. An ihn hatte ich auch gedacht, schon während des Spiels gegen die Griechen. Stellvertretend jetzt auch für andere wunde Stellen im Kader.
Ohne Führung auf dem Platz geht es nicht, besonders nicht bei großen Turnieren. An dieser Stelle bitte auch meinen eingangs erwähnten Hinweis beachten, wonach unter Löw bislang so gut wie keine Rückschläge umgebogen werden konnten, und zwar ganz offensichtlich nicht.