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Da ich momentan wie die meisten auch unfreiwillig viel Zeit und Langeweile habe, dachte ich mir, ich kann auch mal wieder kleinlaut angeschissen kommen und meine Gedanken teilen. Blöde Sprüche bitte im entsprechenden Faden. Über die (ernsten) Hintergründe meiner blödsinnigen Selbstsperraktion werde ich vielleicht an geeigneter Stelle etwas schreiben, vielleicht aber auch nicht.
Ich habe hier jetzt viel, wenn auch nicht alles gelesen. Von daher ist es gut möglich, dass ich bereits Geschriebenes wiederhole. Was mir seit längerem auffällt ist, dass immer häufiger nur noch in Extremen diskutiert und argumentiert wird und eine reflektierte Mitte seltener wird, dabei ist es völlig unabhängig, ob es um Dietmar Hopp, Tempolimit oder jetzt die Corona-Krise geht. Das gilt natürlich nicht nur fürs dieses Forum, sondern eigentlich überall dort, wo Menschen unterschiedlicher Meinung aufeinandert treffen.
Ein Disclaimer vorweg: Ich bin mir der gesundheitlichen Gefahr für den Einzelnen und dem Kollektiv durchaus bewusst und befürworte daher auch die bisher getroffenen Maßnahmen; meiner Meinung nach kamen viele davon sogar viel zu spät. Ich kann auch die vielen empörten Stimmen sehr gut nachvollziehen ob der Bilder, welche sich in den Städten trotz der Lage zeigen. Ebenso stimme ich überein, dass es eine nicht geringe Zahl an Arschlöchern gibt, die durch ihr Verhalten und ihre Ignoranz unmittelbar ihren Mitmenschen und dem Allgemeinwohl schaden.
Aber: Eine Ausgangssperre welcher Abstufung auch immer halte ich für den vollkommen falschen Weg.
Vollkommen richtig ist, dass wir alles dafür tun müssen, die Kurve der Infizierten möglichst flach zu halten. Aber erstens ist überhaupt gar nicht klar, ob eine Ausgangssperre überhaupt (noch) etwas bringt und zweitens halte ich es nicht nur für legitim, sondern gar für unbedingt notwendig über die Folgen eines so schwerwiegenden Eingriffes in die Grundrechte zu diskutieren. Letztendlich wird das natürlich darauf hinaus laufen, dass man am Ende eine Abwägung zwischen den Grundrechten einerseits und der Gesundheit einzelner Menschen - bis hin zum Tod - andererseits treffen muss. Verführe man getreu dem Motto "Jeder Kranke/Tote ist einer zuviel" - dem ich prinzipiell sogar zustimmen würde -, müsste man sich dennoch die Frage gefallen lassen, wieso dann nicht auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens so aggiert wird.
- Wir wissen, dass Stickoxide für Atemwegserkrankungen und viele vorzeitige Todesfälle verantworlich sind, knetern aber trotzdem fröhlich weiter mit dem Diesel durch die Stadt.
- Wir wissen, dass ein generelles Tempolimit viele Unfälle mit Schwerverletzten und Toten verhindern würde, brettern aber trotzdem mit 240 km/h über die Bahn.
- Wir wissen, dass Passivrauchen auch unter freiem Himmel in unmittelbarer Umgebung eines Rauchers gesundheitsschädliche Ausmaße annimmt, trotzdem gibt es an Bus- und Bahnhaltestellen, Stadien etc. keine bzw. kaum Rauchverbote.
Alles wissenschaftlich erwiesen, trotzdem werden diese Erkenntnisse häufig entweder geleugnet oder zumindest der Nutzen von Gegenmaßnamen gegenüber den eigentlichen Gefahren abgewägt. Aber den schwersten Eingriff in die Bewegungsfreiheit, den die meisten von uns wohl jemals erlebt haben, wird einfach so hingenommen, von nicht wenigen sogar begrüßt?
Um nicht falsch verstanden zu werden: Gäbe es gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse, dass die Maßnahme den gewünschten Erfolg verspräche, könnte ich mich damit zumindest etwas anfreunden. Aber wie hier schon mehrfach erwähnt und verlinkt wurde, rät die Mehrheit der Wissenschaftler explizit davon ab. Was glaubt ihr denn würde sich dadurch bessern?
Glaubt ihr, die Leute, die bisher immer noch nicht begriffen haben worum es geht, hätten schlagartig ein Einsehen?
Glaubt ihr, die Leute, die sich ihr Bananenweizen und ihren Cappuccino im Freien nicht nehmen lassen wollen, verzichten dann darauf? Dann wird sich eben nicht in der Fußgängerzone getroffen sondern bei Tante Jutta aufm Balkon oder im Garten.
Glaubt ihr, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen begeben sich brav in ihr Kinder- oder WG-Zimmer und harren dort wochenlang aus? Dann wird sich zum Feiern und zum Grillen eben privat im Garten oder in der WG getroffen. Was wäre dann? Die nächste Eskalationsstufe der Grundrechtseinschnitte, die es Polizisten ohne weiteres erlaubt, in private Räume einzudringen um die Zusammenkünfte aufzulösen?
Wer soll das alles kontrollieren und umsetzen? Es scheint ja nicht einmal möglich zu sein, größere Zusammenkünfte im öffentlichen Raum zu unterbinden, wie sollen dann Millionen Menschen vom unnötigen Verlassen ihrer Wohnung abgehalten werden?
Um es noch einmal ganz klar zu sagen: Ich kann den Frust der Leute ob der Ignoranz einiger Bevölkerungsteile vollkommen verstehen und ich wünschte mir natürlich, dass die Leute einsichtiger wären. Ich befürchte aber, am Ende wird man nicht alle erreichen und "wir" müssen auch die Arschlöcher irgendwie mit durchziehen. Allein, weil uns nichts andere übrig bleibt. Eine Ausgangssperre überzeugt niemandem, eher sehe ich die Gefahr, dass sich ein Trotz mit entsprechenden Reaktionen manifestieren könnte, die am Ende alles nur noch schlimmer macht.
Darüber hinaus finde ich auch die politischen Folgen unüberschaubar. Man schafft damit Präzedenzfälle, die es schlimmstenfalls der AfD irgendwann (im schlimmsten aller Fälle, der hoffentlich nie eintreten wird) erleichtern könnten, ähnliche Maßnahmen durchzuziehen.
In der hier schon verlinkten (und meiner Meinung nach sehr guten) Kolumne von Sascha Lobo ist u.a. auch von der Auswertung von Handydaten zwecks Erstellung von Bewegungsprofilen die Rede. Angeblich anonym. In Israel findet das Ganze weniger anonym statt und Menschen bekommen da gezielt SMS zugeschickt, dass sie doch bitte in Quarantäne bleiben möchten. Ich bekomme Bauschmerzen wenn ich mir überlege, was das evtl. für unsere Zukunft bedeuten könnte (könnte!).
In der Reaktion, um nicht zu sagen der Einstellung gegenüber den Mitmenschen würde ich mir manchmal ein wenig mehr Empathie wünschen. Einig bin ich mit denen - und da wiederhole ich mich gerne -, die das sorglose und ignorante Verhalten einiger verfluchen. Aber nicht jede und nicht jeder, der tagsüber ziellos durch die Gegend läuft, es sich vielleicht mal auf einer Parkbank bequem macht oder meinetwegen auch mit einer Picknickdecke im Park auf der Wiese ein Buch liest, ist gleich ein Ignorant. Zumindest über die Infektionswege herrscht weitestgehende Klarheit und niemand gefährdet sich oder andere, wenn er in der frischen Luft spazieren geht oder es sich irgendwo gemütlich macht, solange man sich von anderen fern hält und die Griffel aus dem Gesicht lässt.